Ein einziger Buchstabe scheidet ein mathematisches Komplement von einem




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Sana02.06.2021
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#14719

Kompliment

Ein einziger Buchstabe scheidet ein mathematisches Komplement von einem


höfisch-höflichen Kompliment. Für den Mathematiker ist die Teilmenge A
das Komplement der Teilmenge B (und umgekehrt), wenn A und B zusammen
die Gesamtmenge M bilden und kein Element der Teilmenge A zugleich
Element der Teilmenge B ist (und umgekehrt) - alles klar? Mit dem alten
Witz: Wenn einer heute die Behauptung aufstellt, die Hälfte der
Ratsherren seien Dummköpfe, und dies morgen mit der Klarstellung
widerruft, die Hälfte der Ratsherren seien alles andere als Dummköpfe,
dann sind die Dummköpfe im Rat das Komplement der Nicht?Dummköpfe (und
umgekehrt) - und nehmen den Widerruf wohl noch als Kompliment.

Ist ein Kompliment solch ein Komplement? Sprachlich sind sie


Geschwister, sogar Zwillinge: Ihr Ursprung ist das lateinische Verb
complere mit einem langen "e", "vollmachen, auffüllen", und das mit dem
Schwanzstück -mentum daraus gewonnene complementum, "Auffüllung,
Ergänzung". Zur näheren Verwandtschaft zählt das gleichbedeutende, im
klassischen Latein geläufigere supplementum, "Supplement", und das
Partizip Perfekt Passiv completus, französisch complet, im Deutschen
"komplett"; weiter verwandt sind die römischen "Plebejer", die neben den
vornehmen Patriziern die weniger vornehme "Fülle" des Volkes ausmachten,
und die "Plenar?" oder "Vollversammlung", kurz das "Plenum", das
"Volle".

Während das "Komplement" samt allem Komplementären unmittelbar aus dem


klassischen Latein in die modernen Fachsprachen übergegangen ist, hat
das "Kompliment" seinen Weg über zwei romanische Tochtersprachen
genommen. Aus dem alten complementum mit dem langen Stamm-"e" ist dabei
zunächst ein spanisches complimiento, heute cumplimiento, darauf im
frühen 17. Jahrhundert das französische compliment und bald darauf, im
Zeitalter des Sonnenkönigs Ludwigs XIV., unser frankophiles,
frankophones "Kompliment" geworden. Das "i" in der Mitte des Wortes
kompliziert zwar die Sortierung der Verwandten im Wörterbuch, impliziert
aber keine Komplizenschaft mit der "Komplikation", keine Verwicklung mit
der "Verwicklung".

Soviel zur Verwandtschaft. Moderne Kompliment-Muffel werden jetzt


argwöhnen, dass ein liebenswürdiges Kompliment eben doch jeweils nur das
mathematische Komplement der real existierenden Qualitäten sei, in dem
Sinne, dass kein Element eines solchen liebenswürdigen Kompliments
zugleich Element dieser real existierenden Qualitäten sei. Aber diese
Kompliment-Muffel sind auch sprachlich auf dem Holzweg. So spanisch
ihnen das vorkommen mag: Jenes alte complimiento und so jetzt unser
"Kompliment" heisst nicht nach der Komplettierung fremder Mängel,
sondern nach seiner eigenen überschwänglichen "Fülle", nach der
überquellenden, überfliessenden, überströmenden Grandezza, mit der ein
spanischer Grande am Hofe Philipps II. sein Gegenüber "komplimentierte",
wie man früher einmal für ein formvollendetes, ehrerbietiges "Begrüssen"
sagte. Schade, dass von diesem "Komplimentieren" heute nur noch das ins
Ironische verkehrte "Hinauskomplimentieren" geblieben ist!

Klaus Bartels
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