Frankfurt am Main, Stadtbibliothek, Ms germ oct 13
Rudolf von Ems, Weltchronik (Fragment)
Zürich (?), um 1300
Pergament, Doppelblatt, am oberen, unteren und einem seitlichen Rand beschnitten. Die ursprünglichen Maße des Buchblockes betrugen etwa 280 x 200 mm. Das Blatt wurde als Bucheinband verwendet (siehe Provenienz); dadurch entstanden Knickspuren, die besonders im rechten Teil der Miniatur (fol 1v) störend wirken.
Schriftspiegel: 210 x 130 mm. Zwei Spalten mit 41 abgesetzten Versen, die beiden untersten fehlen; ihre Ergänzung ist auf Grund der Textanalyse jedoch gesichert.
Schrift: Textualis für deutschsprachige Texte. Der Schreiber entspricht Hand 3 der St.Gallener Weltchronik (siehe dort).
Dialekt: Die Sprachform weist in Richtung Konstanz1.
Provenienz: Das Blatt diente als Bucheinband. Ein heute abgelöster Zettel, der am Rücken dieses Buches klebte, ist beschriftet: Instrumen(ta) pacis Osnabrugensis item Caesareo Galicae Kaiserl. u. konigl. Schwedischer (nicht lesbar) executio Re(nicht lesbar) 632. Im 19.Jahrhundert befand sich das Fragment im Besitz des Arztes und Bücherfreundes Georg Kloss (1787-1854)3.
Inhalt: Folgende Verse der Weltchronik Rudolfs von Ems (ed.: EHRISMANN, Dt.Texte des Mittelalters 20) sind erhalten:
Fol 1r: Vers 7982-8063 (die Verse 8021f und 8062f weggeschnitten)
Fol 1v: Vers 8064-8079 (die Verse 8070f und 8078f weggeschnitten)
Zwischen den beiden Seiten des Doppelblattes fehlen zwei Doppelblätter; die Versrekonstruktion stimmt auf den Vers genau.
Fol 2r: Vers 8736-8815 (die Verse 8775f und 8815 weggeschnitten)
Fol 2v: Vers 8816-8896 (die Verse 8855-8857 und 8895f (?) weggeschnitten.
Buchschmuck:
Fol 2rb steht am Beginn der Mosegeschichte (Vers 8798) eine fünfzeilige rot, blau gespaltene Initiale E (Abb.C1); der korrekte Text sieht eine Initiale M vor, mit der das Akrostichon "Moises" beginnt. Füllfleuronnée hauptsächlich aus Spiralen gebildet. Fleuronnéestab aus roten und blauen Teilen entlang des Schriftspiegels, der oben in einer heraldischen Lilie endet.
Miniatur: Fol 1v befindet sich ein 33 Zeilen hohes doppelspaltiges Bildfeld, das durch rote Doppellinien gerahmt und in zwei Register geteilt ist (Abb.C2). Der Hintergrund der Szenen ist mit blauer Farbe ausgemalt. Die Szenen selbst sind in summarischer Federzeichnung angelegt; besonders die Gesichter wurden nicht eingezeichnet. Wahrscheinlich sollte das Erhaltene nur als Vorzeichnung dienen. Es stellt sich freilich die Frage, ob tatsächlich in Deckfarben ausgeführte Miniaturen beabsichtigt waren, oder eher eine Colorierung mit nicht deckenden Farben (vgl. das Fragment in Nürnberg (GNM, Hs 45522) beabsichtigt war. Die Figuren entsprechen jenen in St.Gallen genau. Schon die Zeichnung läßt die Körperlichkeit ahnen, die durch die teilweise kürzeren Gewänder zusätzlich betont wird. Der Duktus der Falten, besonders die Schüsselfalten im Hüftbereich sind identisch. Die Komposition ist rein flächig; die formatfüllenden Figuren stehen alle auf der unteren Rahmenleiste auf. Flächen, die nicht durch Figuren oder zur Szene gehörige Objekte gefüllt werden können, sind mit Füllmotiven (Baum im oberen Register rechts) gestaltet.
Mode und Realien: In diesem Bereich gibt es keine Unterschiede zur St.Gallener Handschrift. In den zwei erhaltenen Szenen fallen das Gebände mit Haarnetz als weiblicher Kopfschmuck, die etwas kürzeren Gewänder der Männer und der Wagen, dessen Konstruktion und Anspannung den entsprechenden Miniaturen in St.Gallen (gleichzeitig)(Abb.Q5) und im Berliner Fragment (1320er Jahre)(Abb.A4) gleicht, auf. Während in St.Gallen der Aufbau des Wagens einer Kiste entspricht, ist hier ein Holzgerüst mit Weidengeflecht und in Berlin ein Geflecht aus Holzbändern dargestellt. Die Plane und die Räder (in allen drei Fällen ist der Splint zur Befestigung an der Achse zu sehen; in Berlin wird die Plane "räumlich" interpretiert und auch das hintere Rad dargestellt) entsprechen einander. Auch die Anspannung mittels eines um die von den Naben ausgehenden Stangen geschlungenen Seiles ist identisch; nur das Pferd hat in den beiden Fragmenten ein aufwendigeres Geschirr.
Bildprogramm:
Es ist natürlich nicht möglich, auf Grund einer erhaltenen Miniatur das Bildprogramm zu rekonstruieren. Tatsache aber ist, daß die beiden erhaltenen Szenen "Jakobs Reise nach Ägypten" (oberes Register) und "Josef begrüßt Jakob und eine Frau4, die Brüder stehen dabei" (unteres Register) nahezu identisch in der St.Gallener (Abb.Q5) und Berliner Weltchronik (Abb.A4) vorkommen. Während jedoch die gleichzeitige St.Gallener Handschrift ein vollständiges Bildprogramm enthielt, war die Handschrift, aus der die Fragmente in Berlin stammen, immer nur mit wenigen aber ganzseitigen Illustrationen ausgestattet. Obwohl sich die drei Miniaturen so genau entsprechen, sind die Bildprogramme verschieden, und es ist nicht möglich, dieses Fragment einem der beiden Programme zuzuordnen.
Einzelne Unterschiede in Details der Szenen sind jedoch bemerkenswert. Während hier der Rahmen die Szenen überschneidet, ist es in St.Gallen umgekehrt; in Berlin ist die Komposition genau in den Rahmen eingepaßt, so daß es zu keinerlei Überschneidungen kommt. Dadurch erscheint die erste Szene in St.Gallen friesartig, hier durch die dicht gedrängten vom Rahmen überschnittenen Reiter hinter dem Wagen etwas unausgewogen und in Berlin überhaupt auf den Wagen, das Zugpferd und den Pferdeführer reduziert. Ikonographisch ist bemerkenswert,
daß in Berlin Jakob als alter Mann im Wagen fährt, während in St.Gallen wohl der alte Pferdeführer mit Jakob zu identifizieren ist, während hier keine Figur sicher mit dem Patriarchen gleichzusetzen ist. Weiters fällt auf, daß der Pferdeführer nur hier auf dem für ihn vorgesehenen Sattel sitzt, während er sonst hinter dem Pferd geht und eine Knute in Händen hält. Nichts desto weniger ist seine Haltung immer dieselbe; nur daß hier rechts noch ein Baum als Füllmotiv eingefügt werden mußte. Den beiden jungen Reitern hinter dem Wagen (St.Gallen) entspricht hier eine dicht gedrängte Gruppe von mit Judenhüten gekennzeichneten Reitern.
Die zweite Szene scheint nur in St.Gallen richtig erfaßt zu sein: rechts Josef, der seine Eltern (?) umarmt, und links seine Brüder. Hier ist statt Jakob eine weitere Frau dargestellt (durch einen Bug und Abreibungen stark beschädigt), und außerdem ist die Gruppe der Brüder durch eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm und einen Mann mit Stab über der Schulter5 aufgelockert. In Berlin fehlt die Frau, die Josef begrüßt; unter den Brüdern ist ein Kind dargestellt. Nur in St.Gallen ist rechts ein Baum als Füllelement von Nöten.
Dieser recht genaue Vergleich der Miniaturen hebt keine als dem Original besonders nahestehend hervor; vielmehr sind die Kompositionen in Details manchmal auch sinnstörend verändert. Beim Berliner Fragment ist eine Tendenz zur Vereinfachung und Monumentalisierung festzustellen.
Stil und Einordnung:
Die Datierung und die Zuordnung in das Umfeld der St.Gallener Chronik stehen außer Zweifel. Da das Fragment von einem in der St.Gallener Handschrift vorkommenden Schreiber geschrieben wurde, ist es sicher, daß beide Werke in einer Werkstätte entstanden sind. Über den Sitz dieses Ateliers besteht freilich einige Unsicherheit. BEER stellt im Begleitband zum Faksimile der St.Gallener Weltchronik, Luzern 1982, diese eher mit Konstanzer als mit Züricher Werken in Verbindung (siehe Seite 119-125). Ist der St.Gallener Codex durch einen Schreiber für Zürich gesichert, ist gerade der Schreiber, der auch in diesem Fragment tätig ist, eher im Konstanzer Bereich geschult worden. Trotzdem glaube ich muß das Fragment der für Zürich gesicherten Werkstätte zugeschrieben werden, da sich der Stil der Miniaturen vollständig deckt und keine Möglichkeit besteht Schrift und Miniaturen zu trennen.
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