Sprache und Kommunikation im Internet
Von Jens Runkehl, Peter Schlobinski und Torsten Siever
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BIBLIOGRAPHISCHE DATEN
Autoren: Jens Runkehl, Peter Schlobinski und Torsten Siever
Titel: Sprache und Kommunikation im Internet
online verfügbar seit: 01. Januar 2000
Erstveröffentlichung: Runkehl, Jens, Peter Schlobinski & Torsten Siever (1998). "Sprache und Kommunikation im Internet". In: Muttersprache. Vierteljahresschrift für deutsche Sprache 2. S. 97-109.
ISSN: 0027-514X
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Ver. 1.1 vom 07.01.2000
Einführung
Als Paul Baran 1962 die Idee eines Kommunikationsnetzes entwarf, das auch beim Ausfall einiger Teile dieses Netzes funktionstüchtig bleiben sollte, ahnte wohl kaum jemand, daß er damit nach der Einführung des Personalcomputers (PC) die ›zweite große technologische Revolution‹ unseres Zeitalters in Gang setzen würde. Beide Komponenten, der Computer als Grundlage digitaler Datenverarbeitung sowie die globale Vernetzung dieser Rechenmaschinen, führten zum heutigen Internet.
Das exponentielle Wachstum des ›Netzes‹ veranschaulicht in beeindruckender Weise, wie sich »der Ausbau der Informationsgesellschaft auf eine historisch einzigartige Weise synchron im globalen Rahmen vollzieht.« (Münker/Roesler, 1997, S. 7)
Zu den technischen Grundlagen gehört u.a., daß einige im Internet angebundene Computer Informationen anbieten (Server) andere wiederum, sogenannte Clients, diese abfragen; hieraus ergibt sich die sogenannte Client-Server-Architektur. Ferner benötigt man, um mit Computern in aller Welt Verbindung aufnehmen zu können, die Kenntnis ihrer ›Namen‹ (IP-Adressen), die, vergleichbar mit dem Telefonnetz, aus einer eindeutigen Nummer besteht (z.B. 130.75.155.34). Da allerdings solch lange Zahlenkombinationen weniger einprägsam sind als Namen, hat man einen Domain Name Service (DNS) eingerichtet, der für die Übersetzung von IP-Adressen in Rechnernamen und umgekehrt zuständig ist. Aus diesem Grund erreichen Sie FOCUS nicht nur unter http://194.163.254.65, sondern auch unter http://www.focus.de.
Voraussetzung für den Zugriff auf einen WWW-Server (z.B. jenen des FOCUS) ist hierbei eine einheitliche Sprache. Um den Vergleich mit dem Telefon wieder aufzugreifen, müssen sich Anrufer(in) und Angerufene(r) auf eine gemeinsame Sprache verständigen; bei der ›Kommunikation‹ zwischen Computern spricht man hierbei auch von ›Protokoll‹.
Bei dieser ›Sprache‹, im Internet ist dies TCP/IP, werden die über das Internet zu versendenden Daten in kleine Pakete aufgeteilt und auf unterschiedlichsten Wegen (nämlich denen des geringsten Widerstandes) zu ihrem Zielort geschickt. Dort angekommen, werden diese Datenpakete kontrolliert zusammengefügt und, sollte etwas fehlen, gegebenenfalls durch Nachforderung ergänzt. Dieses Prinzip des Datenverkehrs ist zwar hochgradig ineffizient insofern, als Daten unter Umständen über den gesamten Erdball geschickt werden, selbst wenn Server und Client geographisch nur wenige hundert Kilometer voneinander entfernt stehen; dennoch trägt TCP/IP dafür Sorge, daß die Daten ankommen, auch wenn große Teile des Netzes überlastet oder zusammengebrochen sind.
Im folgenden werden die bekanntesten Programme (auch Dienste oder Client-Software genannt) des Internets kurz erläutert:
Electronic Mail (E-Mail):
Die E-Mail gehört nach wie vor zu den beliebtesten Anwendungen im Internet, da sie neue Perspektiven der Nachrichtenübermittlung eröffnet hat. Neben Schnelligkeit besitzt sie den Vorzug, daß mit ihr mittels eines ›Attachments‹ (engl. to attach, ›an- oder beiheften‹) Dateien jeglicher Art (ob nun Text-, Audio- oder Videodaten) verschickt werden können. Damit die Mail auch im ›elektronischen Briefkasten‹ ankommt, braucht der Empfänger eine eindeutige ›Postanschrift‹: diese besteht immer aus zwei Teilen. Das ›@‹-Zeichen (gesprochen [æt]) trennt hierbei »für die Mail den Menschen von der Maschine: links die Person, dann das ominöse Zeichen, dann die Netzdomäne, die den Menschen bedient.« (DIE ZEIT, Nr. 11, v. 7.3.1996)
Newsgroups (News):
Mit dem Net News Transfer Protocol (NNTP) werden ebenfalls Mails versandt; allerdings werden diese – wie an einem Schwarzen Brett – im Internet ›ausgehängt‹, damit alle Interessierten sie lesen und gegebenenfalls darauf reagieren können. Ziel ist also eine Breitenwirkung, wie sie in der meist gegebenen 1:1-Kommunikation des E-Mail-Kontaktes nie gegeben sein könnte.
Um diese ›virtuellen Schwarzen Bretter‹ zu strukturieren, gibt es die verschiedensten Themengebiete (wie sci (science/Naturwissenschaften), comp (computing/Computer) oder rec (rec-reation/Freizeit, Erholung)), die auch die ausgefallensten Interessen abdecken. Das Abonnement eines bestimmten Themengebietes liefert dann jeweils den aktuellsten Diskussionsstand ›frei Haus‹.
Da vielfach die Qualität der Beiträge zu wünschen übrig läßt, gibt es mitunter neben den freien Newsgroups, in denen jeder ohne Einschränkung Artikel lesen, verfassen oder beantworten kann, auch moderierte. Hier werden alle eingehenden Nachrichten auf ihren Inhalt geprüft, bevor sie der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.
An dieser Stelle sei auf einen anderen, immer wichtiger werdenden Punkt hingewiesen: Die Kommunikation im Internet hat sich mittlerweile vom rein wissenschaftlichen Diskurs verabschiedet und zu einem Ge- und Mißbrauch des Netzes zu jeglicher Art des Informationsaustausches verschoben. Daß dieses die merkwürdigsten ›Blüten‹ hervorbringt, kann da nicht verwundern. So greift beispielsweise die Zusendung elektronischer Reklame, auch ›Spam‹ oder ›Junk-Mail‹ genannt, in den virtuellen Briefkasten immer mehr Platz. Auch sieht man des öfteren emotional rüpelhafte Mails (insbesondere innerhalb der Newsgroups) auf dem Bildschirm vorüberflimmern. Ein Phänomen, das auf die isolierte Interaktion eines allein vor seinem Computer sitzenden Internet-Users, den »Typ des Massen-Erimiten« (Wetzstein et al., 1995, S. 63) deutet. Unflätigkeiten oder Beleidigungen lassen sich eben doch einfacher übermitteln, wenn sich das Gegenüber in ›den Tiefen des Nirgendwo des Netzes‹ aufhält.
Um die Umgangsformen des Netzes nicht im allgemeinen Chaos versinken zu lassen, haben sich im Laufe der Zeit einige lockere, aber dennoch sinnvolle Verhaltensregeln entwickelt: die Netzetikette (auch Netiquette). Sie wird auf vielen Homepages bereitgestellt (http://www.zeit.de/netzwelt/netiquette.html) und soll die Nutzer daran erinnern, daß ›auf der anderen Seite‹ immer noch ein Mensch sitzt.
Telnet:
Der Telnet-Dienst ermöglicht den textbasierten Zugriff und den Dialogbetrieb zwischen entfernten Rechnern. Hierdurch wird in erster Linie der Zugang zu Bibliotheks-Katalogen (OPAC, Online Public Access Catalog) oder anderen öffentlichen Datenbanken eröffnet.
File Transfer Protocol (FTP):
Zur systemunabhängigen Übertragung von Dateien eignet sich das FTP, dessen Ausführung heute teils direkt im Browser1 möglich ist. Nach der Eingabe der Adresse (beispielsweise ftp://130.75.155.34) erscheint eine Verzeichnisstruktur mit Dateien, welche durch Anklicken heruntergeladen werden können. Für das Gegenteil, analog zum Download wird es Upload genannt, benötigt man ein FTP-Programm.
World Wide Web (WWW):
Der populärste Teil des Internets ist das WWW (auch W3). Dieser wird oftmals fälschlicherweise mit dem Internet gleichgesetzt und ist gemeint, wenn vom Surfen gesprochen wird. Dank der Erfindung des WWW ist das Internet »ein Medium für die Massen geworden«. (Zehnder, 1997, S. 79) Durch seine Hypertext-Struktur navigiert der Benutzer mit Hilfe der Maus bzw. des Mauszeigers, indem er meist durch Unterstreichung markierte Worte oder Bilder anklickt und dadurch an eine andere Stelle auf der Website oder im Netz gerät. Durch diese Verknüpfungen lassen sich auch alle oben beschriebenen Dienste aufrufen. Bei der Internetadresse http://www.fbls.uni-hannover.de verweist das Hypertext Transfer Protokoll aber auf das WWW; ›uni-hannover‹ ist die im NIC (http://www.nic.de) eingetragene Domäne und ›fbls‹ (Fachbereich für Literatur- und Sprachwissenschaften) die Sub-Domäne. ›De‹ bezeichnet die sogenannte Top-Level-Domäne, die in diesem Fall für Deutschland steht. Ebenfalls möglich wären ›com‹ (commercial), ›edu‹ (educational), ›at‹ (Österreich) etc. Neu eingeführt wurden am 15. Februar 1998 u.a. ›firm‹ (Unternehmen), ›store‹ (Online-Geschäfte) oder ›nom‹ (private Nutzer).
Um all diese Bereiche des Internet in Anspruch nehmen zu können, bedarf es einer Software, die häufig kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Mit einem WWW-Browser wie Netscape Navigator oder Microsoft Internet Explorer ist es dem Internet-Nutzer möglich, im WWW zu surfen oder Dateien, wie etwa einen neuen Druckertreiber, auf die eigene Festplatte herunterzuladen. Häufig stehen auch noch andere Dienste im Browser zur Verfügung; so ermöglicht der Netscape Navigator den Austausch von E-Mails und die Beteiligung an Newsgroups. Solche und andere unterstützte Programme, wie z. B. Telnet, werden durch Eingabe des jeweiligen Dienstes bzw. Protokolls und der gewünschten Adresse durch den Browser aufgerufen, teils direkt in diesem, teils in einem neuen Fenster.
E-Mail
Die E-Mail-Kommunikation bietet vor allem dort ihre Vorteile, wo es gilt, Zeit aber auch Kosten zu sparen. Denn im Gegensatz zum Brieftransfer mittels ›Gelber‹ Post kann eine E-Mail wenige Sekunden nach ihrer Absendung beim Empfänger eintreffen – für die ›Snail-Mail‹ (Schneckenpost) ein unerreichbares Ziel. Benötigt ein Brief unter Umständen mehrere Wochen von Deutschland nach Argentinien, schafft das elektronische Pendant diesen Weg in wenigen Minuten, mitunter gar Sekunden. Eine Ersatzfunktion für bestimmte Arten von Briefen ließe sich unter Umständen durchaus begründen, wird doch durch diese Möglichkeit der Kontakt erleichtert, wodurch ein intensiverer Austausch von Briefen und Nachrichten möglich ist, veranschaulicht durch folgende Mails:
»[...] Ich fing an, darauf [einen Brief] zu antworten, merkte aber, dass Sie eine e-mail-Adresse haben, und dachte, es waere vielleicht einfacher und schneller Ihnen so zu schreiben«
»Lieber [Name],
ich hoffe Sie bekommen meine Nachrichten, denn schon seit Dezember hoere ich nichts mehr von Ihnen. Auf alle Faelle, wollte ich mich nur melden und Ihnen schoene Gruesse aus Brasilien senden.
[Name]«
Die Vermutung liegt nahe, daß der Kontakt zu ausländischen Freunden und Bekannten, insbesondere über einen Kontinent hinweg, via E-Mail nachhaltiger gepflegt wird, im Gegensatz zum Brief jedoch in jeweils geringerem Umfang.
Zu organisatorischen Anlässen wird die E-Mail vielfach der Kurzmitteilung vorgezogen; sie ist effizienter, verursacht weniger Kosten und kann abgefragt werden, wenn es der Zeitpunkt erlaubt. In Abwesenheit kann ein ›Mail-Robot‹ automatisch auf E-Mails reagieren, indem er z. B. darauf hinweist, daß der Mailbox-Besitzer seine Briefe augenblicklich nicht persönlich abfragen kann.
»Liebe/r Absender/in,
[...]
dies ist eine automatische Antwort meines freundlichen Mail-Robot :-) [...]
Ich bin offline bis zum 12.01.98.«
Einen weiteren Vorteil der E-Mail-Kommunikation bietet die Funktion der Re-Mail. Die häufig als ›Dialogsimulation‹ bezeichnete Gestalt ergibt sich aus der Wiederholung der Ursprungs-Mail, gekennzeichnet durch voranstehende Zeichen (meist ›>‹), wobei die Antworten in diese eingebettet werden können – teils direkt hinter den Fragen, teils am Anfang oder Ende.
»>Dear [Name],
>unfortunately may wife cannot join the conference in Gent. Coulod you please
>change my order (see invitation formular) from doubleroom to single room!?
No problem!
>Should I held the talk in English or German??
In English
Kindest regards,
[Name]«
Auch das gesellschaftliche Reglement hinsichtlich hierarchischer Strukturen wird durch die Möglichkeit der Mail-Ansprache aufgelockert.
Neue Kommunikationsarten gehen, wie bereits angedeutet wurde, immer auch mit neuen oder zumindest veränderten Kommunikationspraktiken einher. Vielfach wird jedoch von der »Konstituierung einer eigenen Textsorte „E-mail” in jedem Fall« (Pansegrau, 1997, S. 89) gesprochen oder die »Sprache des Internets [...] als gruppenspezifische Sondersprache der Internet-Nutzer« (Haase et al., 1997, S. 52) bezeichnet. Doch gestaltet sich die ›Sprache des Internets‹ zu vielseitig, als daß solche Definitionsangebote das reiche Spektrum abdecken könnten. Dringen Homepages oftmals in die Werbesprache ein – die mit Sicherheit eine Sondersprache darstellt – so verfolgen ›Chattende‹ oder ›E-Mailende‹ mit Sicherheit andere Ziele als Präsentation oder Marketingmittel.
Dessen ungeachtet fallen bei dem uns vorliegenden Mail-Korpus eine Vielzahl von Besonderheiten auf, die im klassischen Brief selten oder gar nicht anzufinden sind bzw. eher den Chat charakterisieren (siehe Chatten). Bemerkenswert ist, daß trotz des häufig an eiliges Schreiben erinnernden Stils nicht nur Telegrammnachrichten oder Kurzbriefe (konzeptionell mündlich) ausgetauscht werden, sondern auch Briefe (konzeptionell schriftlich) (siehe untenstehende Abb.).
Sowohl die Orts- und Zeitangabe, als auch die Art der Adressierung mit der Angabe von »Herrn«, der genauen Adressenangabe mit Hausnummer und »BRD« als Länderkennung verwundert, da die tatsächliche Adresse des Adressaten im Kopf steht ([Name]@mbox.sdls.uni-hannover.de).2 Das Gegenteil, weder Anrede noch Verabschiedung, ist zwar etwas gebräuchlicher, doch auch eher selten anzufinden. Hingegen wird hier und da eines von beiden weggelassen oder kürzer ausgeführt als beim Papierbrief (»cu« oder Initialen). In diesem Zusammenhang sind auch weitere Akronyme wie »mfg« (mit freundlichen Grüßen) oder »BTW« (By The Way), aber auch Abbrüche wie »verd...« (verdammt) zu erwähnen.
›Ausführlicher‹ hingegen gestalten sich Umlaute oder die Ligatur ›ß‹, die dem internationalen ASCII-Zeichensatz nicht zugehören und daher durch Ausschreiben ersetzt werden müssen (ae, oe, ue, ss). Eine besondere Schreibweise zeichnet sich neben vielen orthographischen Fehlern teils auch durch eine (konsequente) Kleinschreibung aus. Wäre dies eine »Annäherung an das Englische« (Pansegrau, 1997, S. 97), so wären doch mindestens die Namen groß, sogar die Satzanfänge jedoch sind klein geschrieben. Folglich spart die nicht gedrückte Umschalttaste einzig und allein Zeit – ein Anliegen des Autors, das zur Auswahl des Mediums paßt und zugleich ein Indiz für die häufigen Fehler ist. Selbst in Asterisken eingeschlossene Gefühls- oder Zustandsäußerungen »*seufz theatralisch*« tauchen auf, die vermutlich dem Chat entlehnt sind und hierüber Eingang in private Mails gefunden haben. Partikeln aus der Umgangssprache (»halt«) zeigen wiederum das mündliche Konzept der Mails.
Innerhalb dieser Kategorie sollen noch die Satzkonstruktion der einfachen Reihung von Hauptsätzen Erwähnung finden, denen oftmals ein Verb fehlt (»wie bereits telefonisch erwaehnt, Adresse + Preise des CD-Produzenten..«, »also wirklich.. wie kannst Du nur.. fassungslos sitze ich hier....«). Bei letzterem Beispiel fällt besonders eine starke Nähe zur gesprochenen Sprache auf. Als vorweggenommene Antwort auf eine vorausgegangene Anfrage findet sich in einer anderen Mail als ‘Betreff’ »Noe ;-)«, welches auch jugendsprachliche Züge zeigt. Der Verneinung angeschlossen ist ein augenzwinkernder Smiley, welcher einen nicht hörbaren Unterton ersetzen soll. Wie beim Chat finden sich auch in (privaten) Mails Lautwörter aus den Comics (»oops«), Flexionen von fremdsprachlichen Lexemen (»gechattet«), häufiger jedoch Anglizismen (»als attached file«, »ihren Account „disabeld” hat«), Komposita (»Internetserver«, »Rechnerprobleme«) und Hybridbildungen (»Mailadresse«).
Chatten
»Natürlich war Annie längst daran gewöhnt,
sich keine Gedanken mehr über Rechtschreibung,
Grammatik, Groß- und Kleinschreibung oder Satzzeichen
zu machen, denn dazu schrieben die Tickerer viel zu kunterbunt.«
Carola Heine, 1997, S. 34.
Chatten (engl. to chat ›plaudern, schwatzen‹) ist die »wohl populärste Form der Online-Kommunikation« (Filinski, 1997, S. 23), die gegenüber der E-Mail-Kommunikation synchron erfolgt, d.h. in Echtzeit wie beim Telefonieren. Während jedoch beim Telefonieren der Anrufer in den Telefonhörer spricht und das Gesprochene nahezu zeitgleich beim Hörer ankommt, schreibt beim Chatten der ›Gesprächspartner‹ über die Tastatur einen Text, der (ebenfalls nahezu zeitgleich) beim Adressaten auf dem Bildschirm erscheint. Wie beim Telefonieren erfolgt die Interaktion direkt und wechselseitig, allerdings nicht sprechsprachlich, sondern schriftsprachlich.
Um Online-Gespräche führen und entsprechende Kontakte knüpfen zu können, gibt es unterschiedliche Zugänge zu sog. Chat-Räumen, in denen die unterschiedlichsten Teilnehmer zu den unterschiedlichsten Themen miteinander kommunizieren. Neben privaten Anbietern wie AOL mit seinen Chat-Räumen ist das meist genutzte und öffentlich zugängliche Netz das IRC3 (Internet Relay Chat), das über TELNET oder mit bestimmten Programmen wie mIRC (für Windows) oder IRCLE (für MacOS) benutzt werden kann4. Die Gespräche werden auf bestimmten Kanälen (Channels) geführt, die durch eine Raute gekennzeichnet sind, z.B. #london oder #stuttgart. Die Gesprächsrunden selbst können moderiert sein, d.h., man trifft sich zu Diskussionen oder Online-Interviews, sie können themenbezogen sein oder nur auf Einladung erfolgen, man chattet mit FreundInnen in einem kleinen Gesprächskreis oder nur mit einem Gesprächspartner. In den USA gibt es tausende von Gesprächsrunden und -zirkeln, bei denen man aktiv mitchatten kann oder einfach lurkt (engl. to lurk ›lauern, verborgen liegen‹, vgl. Jasper, 1997, S. 56), d.h. als stiller Teilnehmer die Kommunikation verfolgt. Aus sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht sind besonders interessant die informellen Chats, die eine besondere Schnittstelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf dem Hintergrund einer neuen Kommunikationstechnologie markieren. Sehen wir uns einen Mitschnitt aus dem Kanal #berlin genauer an, der bis auf die Zeilennumerierung so am Bildschirm nach Texteingabe der Absender sukzessive erscheint:
1 ***___Babsi (babsi@[...].snafu.de) has joined #berlin
2 *huch* oma?
3 kass <--- guck nich so bloed
4 *** Placebo sets mode: +o ___Babsi
5 <__Babsi> naaaaaabend :)
6 moin babs :)
7 lemmi *stoss*
8 hallo THC und hai auch babsi :)
9 *kassauffress..schling*
10 <__Babsi> ooooooomaaaaaaaa :))
11 lemmi 8btwzustoss*
12 tach babsi, wie war die sonnenallee fete, biste mit mir
13 zusammengestossen?
14 hoi babs
15 hi Babsilain :)
16 <__Babsi> oma: war nix mit gestern :((((
17 gronf *kotz*
18 *** Engelchen (˜laura@[...].aol.com) has left #berlin (Engelchen)
19 <__Babsi> Hi Gronfi..biss ja auch da .)
20 *** Hoogey has quit IRC (Connection reset by peer)
21 ((
22 *** toth (+Jozo@[...].hr) has left #berlin (tooth)
23 oma ist mnemo schon wieder da oder noch? *grins*
24 oma *halloele*
25 kass: hey.. reiher nich, wenn ich dir fresse :)
26 <__Babsi> lemmi: war kalt *bibber*
27 kass <--- na sag mal, wenn das wer liest, ich mein dein ruf
28 ist ja schnurz, aber meiner ,)))))))))))
29 oma wie war die feia ?
30 babsi: hab ich gemerkt :)
31 __Babsi: aba latuernich :)
32 __Babsi <-- gabs noch keinen gluehwein?
33 rbw <-- noch am leben?
34 kass: nett und ausgiebig :)
Der Text ist für diejenigen, die noch nie gechattet haben, sicherlich undurchsichtig, wenn nicht gar konfus. Wir wollen den Text im folgenden einer exemplarischen Analyse unterziehen und auf linguistische Besonderheiten aufmerksam machen, eine systematische Untersuchung von Chat-Kommunikation findet sich in Runkehl/Schlobinski/Siever (1998). In Zeile 1 findet sich eine durch drei Sternchen markierte Befehlszeile (vgl. auch Z. 4, 18, 20, 22). Es wird angegeben, daß sich die Teilnehmerin/der Teilnehmer mit dem Namen ›__Babsi‹ und der Adresse ›babsi@[...].snafu.de‹5 zugeschaltet hat, was allen anderen Teilnehmern mitgeteilt wird. Es gibt eine Reihe von Befehlen der IRC-Client-Software wie ›/join‹, die immer in englischer Sprache erfolgen, wobei zusätzliche Informationen in runden Klammern stehen können, die häufig in Deutsch stehen. Der Name ›__Babsi‹ ist ein Spitzname ebenso wie ›THC, Lemmi, oma_de‹ usw. Der Spitzname kann in der Kommunikation weiter modifiziert werden, so wird ›__Babsi‹ als ›babs‹ (Z. 6, 14) und ›Babsilain‹ (Z. 15) bezeichnet. Der Absender eines Gesprächsbeitrages ist im vorliegenden Chat durch spitze Klammern markiert und steht in der Regel am Anfang des Beitrages, so daß der Sprecher identifiziert werden kann. Die explizite Adressatenspezifizierung folgt der Sprecheridentifizierung, es liegt also die Grundstruktur › Adressat‹ vor, wodurch eine personaldeiktische Orientierung vorgenommen wird. Wie Lenke/Schmitz (1995, S. 134) festgestellt haben, »wird überwiegend das ,Sprecher-wählt-den-nächsten‘-System angewandt, da praktisch alle Beiträge explizit adressiert werden«. Im Anschluß an die deiktische Verortung steht das, was mitgeteilt werden soll. Einen besonderen Status haben Begrüßungssequenzen wie in Zeile 6, 12, 14, 15, 19, die prototypischerweise aus einer Begrüßungspartikel und Namen des Adressaten bestehen; auffällig häufig ist der Gebrauch der englischen Begrüßungspartikel »hi«, in Zeile 8 zu auf Homophonie basierendem »hai« variiert. Daß Anglizismen in einem computerbasierten Medium eine größere Rolle spielen, ist nicht weiter verwunderlich; interessant und bemerkenswert sind indes die sprechsprachlichen und graphostilistischen Markierungen (vgl. hierzu auch Haase/Huber/Krumeich/Rehm, 1997). Die Gesprächsbeiträge sind relativ kurz wie auch die syntaktischen Syntagmen. Da die Chatpartner wechselseitig aufeinander Bezug nehmen und die Eingabe per Tastatur zeitaufwendig ist, wird kontextuelle Information in hohem Maße vorausgesetzt, was zum häufigen Gebrauch von Ellipsen und Anakoluthen führt, ein typisches Kennzeichen der gesprochenen Sprache (vgl. Rath, 1979). Umgangssprachliche Merkmale wie ›tach‹ (Z. 12), ›nix‹ (Z. 16), ›gabs‹ (Z. 32) werden ebenso realisiert wie dialektale, so ›feia‹ (Z. 29) und ›aba‹ (Z. 31) als berlintypische r-Vokalisierungen (vgl. hierzu Schlobinski, 1996). Unter den graphostilistischen Mitteln ist am auffälligsten der Gebrauch von Ideogrammen, insbesondere von den sog. Smilies, den ›lächelnden Gesichtern‹, die in der Regel am Ende eines Chatbeitrages stehen und um 90° gedreht zu lesen sind. »Diese sind aber keineswegs immer freundlich, sondern können zum Ausdruck verschiedenster Emotionen eingesetzt werden.« (Rosenbaum, 1996, S. 227). Hier eine kleine Auswahl von Smilies6:
:-) der lachende Standard-Smiley (Z. 6, 8, 15, 25, 30, 31, 34)
:)) glücklicher Smiley(Z. 10)
:(((( äußerst trauriger Smiley (Z. 16)
(( sehr traurige Grinsekatze (Z. 21)
;-) augenzwinkender Smiley
:/) nicht witzig
:-O erstaunt
:-o schockierend
:-< traurig
<:-) dumme Frage (Eselskappe)
:-i User raucht Zigarette
:-# zensiert
:@ Was?
Intensivierung wird durch Iteration von Zeichen markiert wie in ›:((((‹ und auch ›ooooooomaaaaaaaa‹ (Z. 10). Die Kleinschreibung wird bevorzugt, Interpunktionszeichen können weggelassen werden (Z. 3). Neben diesen Merkmalen weisen dieser und andere Chats ein sprachliches Phänomen auf, das völlig neu zu sein scheint. Es handelt sich um Ausdrücke wie *kassauffress..schling* (Z. 9); hier noch einige weitere Belege aus anderen Chats: *locker mit einer hand auf abstand halt*, *nachbutzes-eisen-stange greif*, *sackhalt*, *saugen geh*. In der Regel sind diese Konstruktionen durch *Sternchen* markiert. Syntaktisch gesehen handelt es sich um eine spezielle Infinitkonstruktion, die bis auf wenige Ausnahmen durch Verbendstellung des Verbstammes gekennzeichnet ist, wobei eine Vollprädikation vorliegt gegenüber den bekannten Infinitkonstruktionen (Infinitiv- und Partizipialkonstruktion), die eine Nebenprädikation aufweisen. Wir wollen diese Konstruktion mangels eines vorliegenden Terminus als infinite Verb-Letzt-Konstruktion bezeichnen. Sie tritt in Zusammenhang mit dem häufigen Gebrauch von prädikativ gebrauchten Verbstämmen auf wie in *kotz* (Z. 17), *grins* (Z. 22) und *bibber* (Z. 26), was die Annahme stützen würde, daß die infinite Verb-Letzt-Konstruktion sich als Erweiterung aus den prädikativ verwandten Verbstämmen herleitet. Diese »Wurzelwörter« (Schlobinski/Blank, 1990, S. 12) wiederum, die allein durch den Verbstamm gebildet werden, sind Erfindungen von Redakteuren der Comics »Micky Maus« und »MAD«. In den 50er Jahren bestand das Problem, die englischen ›sound words‹ ins Deutsche zu übersetzen. So wurde ein spezifischer Donald-Duck-Stil entwickelt (vgl. Dolle-Weinkauff, 1990, S. 70), und der Satiriker Herbert Feuerstein, ehemals Chefredakteur der satirischen Zeitschrift »MAD«, berichtete in der Talkshow »Drei nach neun«, daß er die deutsche Sprache um eben die Wurzelwörter erheblich bereichert habe. Die so neu gebildeten ›Lautwörter‹ haben aus den Comics den Weg auch in die Umgangssprache gefunden:
»Ähnlich wie im Falle der Redensarten und metaphorischen Wendungen handelt es sich dabei oft um Sprachgags von ursprünglich singulärem Charakter, die allmählich zum selbstverständlichen Bestandteil konventionalisierter Comic-Sprache wurden und teilweise über den Jargon Jugendlicher in die Umgangssprache Eingang fanden.« (Dolle-Weinkauff, 1990, S. 70f.).
Der Gebrauch von Wurzelwörtern und infiniten Verb-Letzt-Konstruktionen im Chat finden sich nun vorwiegend bei denen, deren Comic-Lektüre noch nicht verblaßt ist: jungen Studenten und Schülern. Inwieweit hier ein sprachliches Phänomen vorliegt, das sich weiter ausbreitet, insbesondere ausweitet in den Bereich der gesprochenen Sprache, ist eine offene Frage.
Zeitschriften und Magazine im Netz
Kaum ein ernstzunehmender Verlag kann es sich noch leisten, nicht im Internet präsent zu sein. Trotz der hohen Kosten und der geringen Einnahmequellen durch Werbung oder Abonnements werden einige Angebote täglich aktualisiert. Hierbei sind zwar wöchentlich erscheinende Zeitungen und Magazine im Vorteil, doch auch diese, z. B. Focus-Online, versorgen ihre Leser mit ständig neuen Informationen. Grund hierfür ist ein zusätzliches Angebot, das neben dem des Printmediums zur Verfügung steht: Datenbanken, Netguides, Wetter u. a. Focus bietet in diesem Bereich die größte nationale Homepage mit über 1.000 Seiten an. Hingegen orientiert sich »DIE ZEIT« stark an der Printversion; dort allerdings bietet sie mehr als andere: Das Angebot im WWW stellt zwar nur einen Auszug dar, doch deckt es einen Großteil des Zeitungsinhalts mit ungekürzten Artikeln ab. Die Nähe wird durch eine ›bunte Seite‹ namens »ZEITVERTREIB ;-)« (der Smiley verrät den Inhalt schon) unterstützt, die u.a. ein Rätsel, den »wöchentlichen Cartoon«, Glossen sowie eine Webstory anbietet. Besonders für die Literatur im Netz engagiert sich DIE ZEIT, sowohl mit der genannten Geschichte in mehreren anklickbaren Kapiteln, als auch mit einem Literaturwettbewerb seit 1996.
Die aktive Beteiligung an Online-Publikationen berührt eine der interessantesten Fragen für die Zukunft der Netzmagazine und -zeitschriften: Müssen die Verlage nicht viel stärker die Interaktivität des Mediums Internet in ihre Arbeit einbinden? Schließlich bestehen im Netz vielfältigste Möglichkeiten von Kommunikation. Sei es durch direkten Dialog mit der Redaktion oder durch Automatisierungen wie die schon in Ansätzen vorhandene (interessengeleitete) Informationsfilterung beim Abonnement einer bestimmten Zeitung. Warum, so ist langfristig zu fragen, sollten nicht auch Netizens an der Online-Ausgabe mitschreiben dürfen; etwa wenn sie direkt aus einem Krisengebiet heraus über die schnellere und aktuellere Information verfügen? Die wichtige Frage nach einer einzufordernden Objektivität solcher ›externen Nachrichtenpartikel‹ muß hierbei sicherlich neu überdacht werden.
Wie bei jedem größeren Anbieter soll eine Link-Sammlung (»SIDESTEP«) die Suche im weltweiten Netz erleichtern, doch entpuppt sich diese ›Zusammenstellung‹ als Einnahmequelle durch Werbung; wünscht jemand die Aufnahme in die Liste, die nach Kategorien geordnet ist, so muß er hierfür bezahlen. Kostenlos hingegen ist der »NEWSLETTER-KIOSK«, ein nach Sparten geordneter Ticker, der ausgewählte Nachrichten auf Wunsch in die eigene Mailbox sendet.
Bereits über 24 Stunden vor dem Erscheinen des Zeitschriftenmagazins, lassen sich einige Artikel auf dem Web-Server von Focus einsehen. Wie bei Spiegel-Online gibt es neben Angeboten, die ausschließlich im Web publiziert werden, einige mit der Zeitschrift übereinstimmende Artikel. Selbst die zahlreichen, im Printmedium in Rahmen gefaßten Tabellen, Zusatzinformationen, Zusammenfassungen und Interviews werden in HTML umgesetzt und präsentiert. Doch fällt auf, daß die Online-Version dem Printmedium nicht äquivalent gegenübersteht, obgleich sie eine ungleich bessere Zugänglichkeit zur Information bieten könnte, sondern im Augenblick nur Appetit darauf machen soll.
Umfangreich gestaltet sich die Datenbank des Focus – diese allerdings ist vielfach kostenpflichtig. Aber auch hier zeigt sich: Der Vorteil des elektronischen Mediums, Datenmassen besser präsentieren und vor allem verwalten zu können, wird noch viel zu wenig genutzt. »Es gibt in Digitalien keinen technischen Grund, warum ein Text eine andere Länge haben sollte, als diejenige, die sein Inhalt verlangt; ganz im Gegensatz zum papierenen Cousin, der sich quetscht oder streckt, bis die Seite gefüllt ist.« (Polatschek, 1996, S. 62)
Bis maximal drei Artikel aus fast jeder Rubrik stellt der Spiegel ins Netz; eigens für die Homepage schuf man eine Sparte namens »Netzwelt« und darunter, für Notizen, das »Forum«, vergleichbar mit dem »Panorama« unter »Deutschland« im Magazin. Verwirrend wirken Artikel, die im Heft unter einer anderen Rubrik eingeordnet werden als auf der Homepage (z.B. Thema “Nuklearruine Mühlheim-Kärlich” im Heft unter ‘Wissenschaft + Technik’, im Web in der Sparte ‘Ausland’: Heft 3/98, 12.1.98).
Augenblicklich weist das Internet-Angebot der Magazine und Zeitungen noch wenig Eigenständigkeit aufweist; eine Anpassung an das neue Publikationsforum WWW findet kaum statt. Zwar können der Beliebtheit wegen viele Werbeflächen vermietet werden, doch rechnet sich derzeit auch dann eine eigene Redaktion kaum. Die Marketingfunktion allein stellt meist den Antrieb für das Angebot, zumindest bis ein adäquates Abrechnungsverfahren gefunden ist.
Polatschek fragt berechtigterweise, ob die Redaktionen es in der Zukunft vollbringen, »lebendige und hochaktuelle Enzyklopädien [zu] schaffen, anstatt anderswo zu Tode geformtes Material noch einmal zu verwursten?« (Polatschek, 1996, S. 63). Häufig werden nur Schwerpunkte verlagert; doch die wenigen Artikel sind identisch mit dem Printmedium. Die Hoffnung auf eine Hörprobe einer bedeutenden Rede etwa oder auf eine Animation anstelle einer trockenen Grafik wird enttäuscht. USA-Today, Amerikas größte Tageszeitung, bietet da schon Erstaunliches: stundenaktuelle Berichte in einem größeren Umfang, als es das Printmedium selbst anbietet. Denn hier zeigt sich die vielleicht größte Stärke des Internet, die auszubauen den Netz-Zeitschriften ein zentrales Anliegen sein muß: die Schnelligkeit und damit die Aktualität der Information.
Letztlich dürfen sich die Netzausgaben von Printmedien aller Art nicht im traditionellen Sinne als Einwegkommunikationsmedien verstehen, wenn sie eine sinnvolle Ergänzung zu ihren Verwandten Print, Fernsehen und Radio bieten wollen.
Sprach- und Kommunikationswandel durch das Internet?
Daß das Internet unsere Schreibkultur beeinflußt und in Zukunft zunehmend beeinflussen wird, steht außer Frage. Ob dies allerdings zu einem größeren Sprachwandel führt, glauben wir nicht, wenn auch in einzelnen Bereichen Sprachwandelprozesse initiiert oder verbreitet werden können. Vielmehr zeigen unsere (und andere) Analysen, daß sprachliche Elemente und Versatzstücke aus diversen Diskurswelten zu einem spezifischen Stilmix zusammengebastelt werden. Dies hat Werry (1996, S. 58) für die IRC-Kommunikation treffend beschrieben:
»Participants tend to play with language, to produce hybrid, heteroglossic forms that incoporate all manner of communicative styles. A salient property of IRC discourse involves what one might call the written equivalent of speaking in tongues. Participants produce a bricolage of discursive fragments drawn from songs, tv characters, and a variety of different social speech types.«
Durch das Prinzip der Bricolage wird die sprachliche Variation erhöht, die zwar notwendige Voraussetzung für einen Sprachwandel ist, aber nicht zu Sprachwandelprozessen führen muß. Durch das Zusammenbasteln aus verschiedensten Stilelementen entstehen neue Schreibstile insofern, als »es nicht zu einer Schaffung von Objekten aus dem Nichts [kommt], sondern vielmehr zu einer Transformation und Umgruppierung des Gegebenen in ein Muster, das neue Bedeutung vermittelt; einer Übersetzung des Gegebenen in einen neuen Kontext und seiner Adaption.« (Clarke 1979, S. 138). Durch den Prozeß der De- und Rekontextualisierung von sprechsprachlichen Elementen, Anglizismen, graphostilistischen Mitteln usw. entstehen Schreibstile, die das Netz als neues Medium und den Diskurs seiner Nutzer widerspiegeln.
Wandelt sich Sprache durch das Netz nicht schlechthin, so werden durch die Internet-Kommunikation die kommunikativen Praxen nicht nur erweitert, sondern auch rasant verändert. Zentral hierfür ist die Tatsache, daß im Cyberspace Raum und Zeit eine neue Qualität erfahren: Nahezu zeitgleich kann prinzipiell jeder rund um den Globus kommunizieren. »Das Internet operiert in der realen Zeit, doch Menschen in verschiedenen Zeitzonen können trotzdem leicht miteinander kommunizieren.« (Dyson, 1997, S. 15). Das viel zitierte ›globale Dorf‹ ist ein transnationales Kommunikationsnetz, das die Kommunikationsmöglichkeiten qualitativ verändert. Die E-Mail ist nicht nur ein elektronisch erweiterter Brief, sondern ermöglicht die (preiswerte) Verschickung von Texten, Bildern, Tönen und Videos online. Chats und Newsgroups können Tagungen ersetzen und der Austausch materieller Güter erfolgt zunehmend über den beginnenden Datenhighway. Das Internet als interaktives und multi-direktionales Medium virtualisiert die Kommunikation in zunehmendem Maße, kritisch zu fragen ist – bei aller Begeisterung für das Netz und seine Netizens –, ob nicht die Face-to-face-Kommunikation sich zunehmend im MUDnebel des Cyberspace verflüchtigt, in denen nicht mehr Personen, sondern »Chiffrenexistenzen« (Krämer, 1997, S. 96) miteinander kommunizieren.
Literaturverzeichnis
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Kontakt zu den Autoren:
Jens Runkehl
runkehl@websprache.uni-hannover.de
Torsten Siever
siever@fbls.uni-hannover.de
Prof. Dr. Peter Schlobinski
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