Die öffentliche Debatte im Zeitalter des Internets
Leider erfahren Initiatoren niederländischer kirchlich-religiöser Websites mit einem Diskussionspodium und Redaktionen der Tageszeitungen, die die Online-Debatte fördern, jeden Tag wie unsachlich, emotional und sogar aggressiv oft auf Blogs reagiert wird.
So vermutet der ehemalige Leserredakteur („ombudsman“) der überregionalen Tageszeitung „de Volkskrant“, Thom Meens, dass diese „Verschmutzung“ nicht so sehr von den eigenen Abonnenten verursacht wird, sondern hauptsächlich von Auβenseitern stammt, die weder eine Leserbindung mit einem bestimmten Titel entwickelt haben, noch häufige Leser sind, möglicherweise überhaupt keine Zeitung lesen, jedoch viel Freizeit surfend auf dem Internet verbringen, um ihre populistischen ausländer- und islamfeindlichen „Internetabfälle“ zu verbreiten. In der Ausgabe seiner Rubrik vom 27. März 2010 überlegt Meens sich ernsthaft, ob sein Blog zukünftig nicht eingeschränkt und somit nur für eine bestimmte, für eine „eigene“ Zielgruppe zugänglich gemacht werden sollte. Seine Redaktion war es müde geworden, die Beiträge im Internet ständig moderieren zu müssen und sie eventuell auch zu zensieren.2
Die Euphorie über „Qualität“ und „Offenheit“ der Online-Diskussion zu aktuellen, mit Emotionen verbundenen, politischen und religiösen Fragen der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft scheint mir sowieso unter einen gewissen Druck geraten zu sein. Dieser Tatbestand trifft nicht nur auf den Journalismus und die Journalisten zu. Beispielsweise untersuchte Tamara Witschge in ihrer Amsterdamer Dissertation, ob und wie ethnische Minderheiten oder ausländische Nationalitäten in den niederländischen Medien positiv oder negativ dargestellt werden. Ihre Forschungsfrage lautete: „In welchem Umfang sind verschiedene Akteure und Blickwinkel in der Online-Diskussion über Migration vertreten, und wie lässt sich das mit der Darstellung in Zeitungen vergleichen?“3
Witschge schlussfolgert, dass im Internet noch keine wirklich offene Debatte stattfindet. Die Ursachen hierfür bestünden insbesondere in menschlichen Unzulänglichkeiten: So fällt es niemandem leicht oder ist ihm gar einfach, sich gegenüber jemandem, der einer anderen bzw. unterschiedlichen politischen, kulturellen oder religiösen Gruppe angehört, zu präsentieren bzw. ihm gegenüber zu argumentieren. Das trifft vor allem dann zu, wenn es sich um Minderheiten handelt, die ihre Rechte in der Gesellschaft einfordern. Zugang zur Online-Diskussion sei zwar einfacher, obwohl ein Internetzugang dafür Voraussetzung ist, als auch Teilnahme an der Zeitungsdebatte. Folglich sind mehr Bürger Online vertreten. Für diejenigen, die keine Kontakte zur Zeitungswelt haben, ist es laut Witschge schwierig, Zugang zu dieser Diskussionsplattform zu bekommen. Obwohl die Online-Teilhabe einfacher ist und in der Diskussion mehr unterschiedliche Positionen geäußert werden, bleiben die Gegenargumente in der Online-Debatte innerhalb der Grenzen dessen, was als niederländische Kulturwerte und niederländisches Rechtssystem gilt. Es wird keine wirkliche Alternativposition präsentiert. Und „die anderen“ waren nicht in der Debatte vertreten. In diesem Sinne ist die Diskussion eingeschränkt, obwohl es keine direkten Anzeichen dafür gibt, dass diese Ansichten ausgeschlossen worden sind. Also kann weder Engagement noch Verständnis für die „anderen“ etabliert werden. Seine/ihre Position wird nicht erwähnt (obwohl sogar von denjenigen, die in der Debatte präsent sind, darüber spekuliert wird). Auf diese Weise bleiben Ängste, Frustrationen und Vorurteile über die anderen ungelöst und man stellt sich nicht der Herausforderung.4
Witschge sieht jedoch einen Lichtblick und einen Weg, der es ermöglicht, Menschen miteinander offline in Kontakt zu bringen. Ihrer Meinung nach kann die Offenheit der Online-Debatte verbessert werden, wenn man andere Kommunikationswege in der öffentlichen Diskussion wählt. Die Debatte in der Öffentlichkeit hat sich dermaßen verhärtet, dass der Respekt für die Überzeugung anderer systematisch der Tendenz untergeordnet wird, die eigenen Meinungen zu vertreten. Das geschieht häufig ohne jegliche Selbstkritik, ohne Empathie und ohne ein Gefühl für Nuancen – aber immer, wie Witschge betont, mit einem Appell für eine falsch verstandene Redefreiheit. Nach ihrer Einschätzung sind persönlicher und respektvoller Umgang miteinander wichtige Voraussetzungen für eine sinnvolle Online-Debatte. Sie plädiert für einen generellen Standard der „Netiquette“ (Etikette im World Wide Web), der zu Dialog und primärem Fokus auf den Inhalt der Debatte führt, angereichert mit persönlichen Erfahrungen anstelle abstrakter Argumente. Diese Empfehlung sollte sowohl in der Medienarbeit des kirchlichen und religiösen Bereichs (und übrigens nicht nur auf diese Bereiche eingeengt, sondern generell) ernst genommen und umgesetzt werden.
Nachdem ich die zwei Bedeutungen des Begriffs educatio im katholischen Kirchenrecht zur Kenntnis genommen habe, bin ich mehr als zuvor davon überzeugt, dass „Bildung im Sinne von Ausbildung und Unterricht, wie es beispielsweise in Schulen oder Kursen praktiziert wird“5, in Bezug zu Medien – jedenfalls in den Niederlanden - mehr Aufmerksamkeit verdient. Ergänzend dazu, aber wahrscheinlich manchmal auch stellvertretend für Anstrengungen von Eltern lohnt es sich, Kinder und Jugendliche rechtzeitig und sinngemäβ auf einen selbstverständlichen und selbständigen Umgang mit alten und neuen Medien und deren Wirkung vorzubereiten. Dies schließt das Warnen vor den Risiken der Internetbenutzung ein, ohne jedoch dabei Angst auszulösen. Vielmehr geht es um eine effiziente Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf eine „sichere Entdeckungsreise durch das World Wide Web“.
Die Niederlande, bekannt durch Kompromissfähigkeit, hat ein inzwischen auch in der Bundesrepublik Deutschland anerkanntes System der Selbstklassifizierung für audiovisuelle Medieninhalte und Computerspiele entwickelt. Unter dem Markennamen „Kijkwijzer“ wird dieses Modell des Niederländischen Instituts für die Klassifizierung von audiovisuellen Medien (Nederlands Instituut voor de Classificatie van Audiovisuele Media, NICAM) seit 2001 zur Schutz der Jugendlichen in den Niederlanden mit Erfolg angewandt. Ausländische Behörden und Wissenschaftler zeigen viel Interesse für diese pragmatische Problemlösung zum Jugendschutz im Medienbereich. Diskriminierung aller Art, also auch in Bezug auf religiöse Überzeugungen, gehört – ebenso wie Gewaltdarstellung, Angsterzeugung, Sexdarstellung, Drogen- und Alkoholmissbrauch und grobe Reden – zu den Interessengebieten derjenigen, die das Angebot beurteilen.6
Das medienübergreifende Klassifizierungssystem Kijkwijzer weist unter Jugendschutzgesichtspunkten mögliche Beeinträchtigungen für Kinder verschiedener Altersgruppen aus. Jugendmedienschutz und Medienbildung werden seit 2009 im neuen Parallelprojekt „mediasmarties“ aufeinander bezogen. Dieses Onlinesystem informiert über Medieninhalte, die Kindern gut tun. Alle audiovisuellen Medien sind integriert, also Fernsehsendungen, Filme und DVDs, Spiele, Webseiten und Apps.7
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