SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen - Manuskriptdienst
“Lautmaler in Windeln -
Wie Kinder sprechen lernen”
Autor und Sprecher: Volkart Wildermuth
Sprecherin: Sonja Striegl
Redaktion: Sonja Striegl
Sendung: Mittwoch, 06. Juli 2005, 8.30 Uhr, SWR2
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Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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ATMO: Geräusch - Babbelaufnahmen
O Ton 1 - Marie Müller:
Bei uns kommt ein junger Student namens Markus. Die beiden haben sich ganz schnell miteinander angefreundet und wenn das regelmäßig einmal die Woche ist, dann kann sich auch das kleine Kind daran gewöhnen. In letzter Zeit muss man da schon nachhelfen, denn dann lacht sie das Mikrophon nur an und da sie ja jetzt sowieso anfängt sich auf den Bauch zu legen, haben wir sie auf den Bauch gelegt, bis sie anfing was zu erzählen.
O Ton 2 - Stefanie Küster:
Ich hab da so meine Tricks, denn wenn ich ihm was in die Hand drücke, bestimmte Sachen, dann guckt er sich die Sachen an und redet mit diesen Sachen und dann weiß ich, er babbelt jetzt halt, aber an manchen Tagen da liegt er einfach nur und grinst oder läuft weg und dann müssen sie mit dem Mikro hinterher.
Sprecher:
Die Babys von Marie Müller und Stefanie Küster sollen hier im Dienste der Wissenschaft babbeln. Berliner Studenten verfolgen sie mit dem Mikrophon, spielen mit ihnen, kitzeln sie, unterhalten sich mit ihnen, um vom ersten Schrei, zum ersten Wort, zum ersten Satz nur ja nichts zu verpassen.
Sprecherin:
„Lautmaler in Windeln - Wie Kinder sprechen lernen“. Eine Sendung von Volkart Wildermuth.
Sprecher:
Derzeit werden rund 170 Versuchspersonen in Strampelhosen mit Mikrophonen belauscht, zeichnen Elektroden ihre Hirnströme auf, enthüllen psychologische Tests ihr Weltverständnis. Für die Familien sind die regelmäßigen Termine aufwändig. Sind - Pokistonning jan.sharqiy qismidagi viloyat. Maydoni 140,9 ming km². Aholisi 29,9 mln. kishi (1998). Maʼmuriy markazi - Karochi sh. Yer yuzasining aksari qismi tekislik. Iklimi tropik iqlim, yanvarning urtacha temperaturasi 16-17°, iyulniki 29-35°. Doch die Frage, wie die Sprache in den kleinen Kopf des Kindes gelangt, und wo Stolpersteine liegen, die später zu Sprachstörungen führen können, fasziniert nicht nur Forscher, sondern auch Mütter wie Tanja Junge.
O Ton 3 - Tanja Junge:
Ich war bei unserem Gesundheitsamt zum wiegen und messen, habe da das Plakat gelesen und da stand halt, gibt es in ihrer Familie Lese- und Rechtschreibschwäche, und da mein Mann Legastheniker ist, dachte ich, das wär vielleicht was für uns, rief hier an, hab dann auch gesagt, dass meine große Tochter mit drei Jahren so gut wie gar nicht spricht und so sind wir dann halt hierher gekommen.
ATMO: Geräusch - Babbelaufnahmen
Sprecher:
Buchstäblich vom ersten Schrei an werden die Äußerungen der kleinen Versuchspersonen verfolgt. Dabei zeigt sich: Die Sprachentwicklung folgt einem genau festgelegten Plan. Einbogenschrei, Doppelbogenschrei, komplexere Schreie, Sprachspiel, marginales Lallen, kanonisches lallen, dann die ersten Worte.
ATMO: Geräusch - sprachlicher Lebenslauf im Schnelldurchgang: erster Schrei, Schreie, Babbeln, erste Worte.
Sprecher:
Professor Zvi Penner von der Universität Konstanz hat zusammen mit seinen Mitarbeitern das Frequenzmuster jeden Schreis und jedes Lallens genau untersucht. Überraschende Erkenntnis: schon die ersten Laute sind eindeutig von der Sprachumgebung der Babys geprägt.
O Ton 4 - Professor Zvi Penner:
Wir gehen davon aus, dass die Kinder in der frühen Lautierung, im Schreien, im Lallen und so weiter, das fängt alles sehr früh an, schon die Struktur haben, nicht nur eine Struktur haben, sondern die Struktur haben, die wir praktisch in der Zielsprache haben, das macht diese Lautierung für uns relativ angenehm. Also das deutsche Kind würde so etwas machen wie Dada Dada und das französische Kind daDa daDa. Einfach steigend anstatt fallend am Schluss.
Sprecher:
Und das entspricht der typischen Betonung im Französischen beziehungsweise im Deutschen. Schon bei den Doppelbogenschreien der erst drei Tage alten deutschen Babys ist der erste Bogen lauter.
ATMO: Geräusch - Doppelbogenschrei
Sprecher:
In Frankreich dürfte das andersherum sein. Wahrscheinlich haben die Kinder schon vor der Geburt etwas über ihre Muttersprache herausgefunden, meint Professor Jürgen Weissenborn von der Universität Potsdam:
O Ton 5 - Professor Jürgen Weissenborn:
Das heißt, im Mutterleib hört das Kind eigentlich schon die typische, rhythmische oder - man könnte vielleicht auch sagen - musikalische Struktur seiner Muttersprache. Man kann das feststellen, indem man den Fetus mit regelmäßigen rhythmischen, lautlichen Sequenzen beschallt. Ein Beispiel, der Fetus hört Babi Babi Babi und sie wechseln dann nach einer gewissen Weile zu baBi baBi baBi dann stellt man fest, dass sich die Herzfrequenz verlangsamt und daraus schließt man, dass der Fetus diesen rhythmischen Unterschied wahrgenommen haben muss.
Sprecher:
Nach der Geburt hören sich die Babys dann immer besser in ihre Muttersprache ein. Lange bevor sie ihr erstes „Mama“ oder „Auto“ sagen, haben sie schon wichtige Sprachregeln analysiert. Allerdings können sie über diese Fortschritte nur indirekt Auskunft geben.
ATMO: Geräusch - Tür zu, dann Baba-Test
Sprecher:
Stefanie Küster sitzt mit dem fünf Monate alten Tim auf dem Schoß in einer schalldichten Kabine. Während Mutter und Kind in der schon vertrauten Umgebung geduldig warten, startet draußen die wissenschaftliche Mitarbeiterin Sonja Bartels das Testprogramm. Aus Lautsprechern links und rechts von Tim ertönen Sprachproben. Gleichzeitig blinken Lämpchen, die seine Aufmerksamkeit auf die Schallquellen richten sollen. Stefanie Küster bekommt von dem eigentlichen Experiment nichts mit. Damit sie ihren Sohn nicht beeinflusst, hört sie über Kopfhörer klassische Musik.
O Ton 6 - Stefanie Küster:
Ich hab Tim auf dem Schoß und dann seh ich natürlich meinen Tim und die Lämpchen und wenn die Lämpchen leuchten, dann seh ich wie sein Kopf immer nur hin und her und sucht die Lämpchen. Eben hat doch noch links geleuchtet, wieso leuchtet und der sucht dann immer nur links, wo ist denn jetzt das Lämpchen, was jetzt leuchtet, dabei leuchtet die ganze Zeit schon rechts eins.
O Ton 7 - Sonja Bartels:
In diesem Test geht es um die Betonung, das heißt, wir spielen den Kindern zweisilbige Wörter vor, mit unterschiedlicher Betonung einmal Baba und baBA und gucken dann, ob die Kinder da einen Unterschied erkennen können.
O Ton 8 - Stefanie Küster:
Der Kopf geht wirklich wie eine Rundumleuchte ewig hin und her und da muss ich wirklich richtig lachen dabei und da muss ich mich wirklich zusammenreißen da, dass er das dann anständig durchzieht.
O Ton 9 - Sonja Bartels:
Gemessen wird die Blickdauer des Kindes, das heißt wie lange blickt das Kind zum Lautsprecher hin. Und unsere Hypothese ist halt, dass es bei neuen Sachen z. B. länger zuhört, als bei Sachen, die ihm schon bekannt vorkommen und das ist für uns ein Zeichen, dass die Kinder die Stimuli differenzieren können.
ATMO: Geräusch - Türe auf „Du hattest ja gar keine Lust mehr, überhaupt nicht“.
Sprecher:
Mit der Kopfdrehungsmethode will Jürgen Weissenborn herausfinden, auf welche Aspekte der Sprache die Babys als erstes reagieren. Worte sind es sicher nicht, denn für die Kinder ist die Sprache zunächst eine unstrukturierte Folge von Lauten.
O Ton 10 - Professor Jürgen Weissenborn:
Das erste Problem, dass das Kind zu lösen hat, ist den kontinuierlichen Sprachstrom in einzelne Einheiten zu segmentieren, die dann potentielle Wörter seiner Sprache sind und stellen Sie sich vor, das Kind kommt auf die Welt und dann klingt alles etwa so wie: „Mähenäbteheu“. Also mähen Äbte Heu? Nein Äbte mähen kein Heu. Also das was für uns überhaupt gar kein Problem darstellt, dieses Problem das muss das Kind zunächst lösen.
Sprecher:
Welche Orientierungspunkte nutzen die Kinder. Pausen, bestimmte Lautfolgen, Betonungen? Alles ein bisschen zeigen die Untersuchungen der Deutschen Sprachentwicklungsstudie, die zentrale Rolle spielen aber die Betonungen.
O Ton 11 - Professor Jürgen Weissenborn:
Diese rhythmischen Unterschiede scheinen es dem Kind zu erlauben, den kontinuierlichen Sprachstrom aufzuspalten, zu segmentieren in einzelne lautliche Einheiten. Zum Beispiel Einheiten, die aus zwei Silben bestehen, zum Beispiel einer anfänglichen initialen betonten und einer darauf folgenden unbetonten Silbe also noch einmal so etwas wie Baba, Baba oder denken sie an Mama, Mama oder Papa, Papa und dann verfügt das Kind über Lautmuster die es mit einer Bedeutung verbinden kann.
Sprecher:
Die Babys nehmen die Betonungsunterschiede aber nicht nur wahr, sie zeigen schon bald eine deutliche Vorliebe für die anfangsbetonte, die typisch deutsche Silbe.
O Ton 12 - Professor Jürgen Weissenborn:
Also, man kann vermutlich sagen, wenn die Effekte robust bleiben, bei unsren Untersuchungen, dass die Kinder im rhythmischen Bereich schon im Alter von 4 Monaten eine Präferenz für die rhythmischen Strukturen ihrer Muttersprache zeigen.
Sprecher:
Kleinkinder ignorieren alles Unwichtige um dafür die entscheidenden lautlichen Details um so effektiver zu verarbeiten. Diese Konzentration auf das Wesentliche lässt sich mit Elektroden belauschen, die den Babys an den Kopf geklebt werden.
ATMO: Geräusch - Vorbereitung EEG
(An der Stelle mit: ...So, das war bis hierher der einfache Teil und jetzt kommt die Sache mit der Elektrodenhaube...)
Sprecher:
Stefanie Küster und zwei Forscherinnen versuchen gemeinsam dem kleinen Tim eine Haube mit zwei Dutzend Elektroden aufzusetzen, ohne dass er den bunten Zopf aus Kabeln gleich wieder abreißt. Bloß die Laune nicht verderben, damit Tim nicht strampelt und die Messung verdirbt. Letztlich hilft nur Bestechung mit Spielzeug. Wenn dann alles sitzt, quetschen sich Mutter und Kind in eine kleine Kabine. Während drinnen Silben ertönen, sieht die Psychologin Ann Pannekamp draußen viele zackige Linien über den Bildschirm laufen, Abbild der elektrischen Aktivität in Tims Gehirn.
ATMO: Geräusch
O Ton 13 - Stefanie Küster:
Beim EEG habe ich gefragt, weil das sah natürlich sehr abenteuerlich aus, die fröhliche Badekappe mit den ganzen Kabeln da dran, und so ein kleines Kind sieht da ganz übel drunter aus, und dann haben die mich beruhigt, haben gesagt, das ist nichts von Bedeutung, das ist wirklich nur Gehirnströme messen wenn das Baba und Dada kommt, ob er dann zum Beispiel unterscheiden kann, das sieht man dann an den Gehirnströmen.
ATMO: Geräusch - wechselt von Vorbereitung zu Messung: BaBa, BaBa
O Ton 14 - Ann Pannekamp (mit background):
Wir beobachten online die EEG Aktivität und die oberen beiden Linien wären zum Beispiel die Augenaktivität, je paralleler sie laufen, desto ruhiger ist das Kind, diese wild laufenden Zacken ist meistens Muskelaktivität. Mittlerweile können wir sehr gut sehen, ob ein Kind nuckelt, das sieht man dann auch im EEG an dieser Muskelbewegung.
ATMO: Geräusch
Sprecher:
Tim hört nicht nur den Messtönen zu, sein Gehirn beschäftigt sich gleichzeitig mit vielen anderen Dinge, steuert Bewegungen, reguliert die Atmung, träumt vielleicht. Das alles spiegelt sich in den wild zuckenden Linien auf dem Bildschirm wieder, der Anteil der Sprachverarbeitung lässt sich nicht erkennen. Erst wenn viele hundert Einzelmessungen zu immer dem selben Sprachreiz gemeinsam analysiert werden, tritt ein spezifisches Signal aus dem Hintergrundsrauschen hervor.
ATMO: Geräusch
Sprecher:
Ereignis Korrelierte Potentiale nennt sich diese Methode. Mit ihr lassen sich auch sehr schnelle Vorgänge im Gehirn beobachten. Und auf Geschwindigkeit kommt es an. Um natürliche Sprache zu verstehen, müssen Klangänderungen im Verlauf von wenigen Tausendstel Sekunden analysiert werden. In ersten Ansätzen gelingt das Babys schon direkt nach der Geburt. Mit zwei Monaten erkennen sie sicher die Länge einer Silbe. Als Halbjährige verfolgen sie die Sprachmelodie und können Laute wie „da“ und „ga“ oder „ba“ und „pa“ auseinanderhalten. Wenn die Kleinkinder mit dem Lautraum ihrer Sprache vertraut sind, gelingt es ihnen auch, das Gehörte mit Bedeutungen zu verbinden. Das zeigt sich, wenn Dr. Manuela Friedrich vom Max Planck Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig den Kindern Bilder zeigt, gleichzeitig Worte vorspricht und parallel die Reaktion des Gehirns beobachtet.
O Ton 15 - Dr. Manuela Friedrich:
Wir haben gefunden, das Kinder, die das Bild von einem Ball sehen, auch das entsprechende Wort nämlich Ball erwarten und zwar schon im Alter von einem Jahr genau etwa um den ersten Geburtstag herum. Das finden wir auch bei Kindern, die überhaupt noch nicht sprechen und wir lassen die Eltern auch einen Fragebogen ausfüllen, auf dem sie dann einschätzen, in wie weit die Kinder schon die entsprechenden Worte können und kennen und wir sehen, dass die Eltern die Kinder da regelrecht unterschätzen, also das die Kinder wirklich scheinbar schon mehr an lexikalischem Wissen verfügbar haben, als die Eltern ihnen zutrauen.
Sprecher:
Wie viel die Kinder wissen, zeigt sich, wenn im Experiment Bild und Wort nicht zusammen passen. Dann gibt es nämlich eine typische Verzögerung in der Reaktion des Gehirns. Passt das Bild dagegen, wird die sprachliche Information flott weiterverarbeitet. Das Wort ist Teil des schnell wachsenden geistigen Lexikons. Mit einer gewissen Verzögerung beginnen die Kinder die neu erfassten Worte dann nicht mehr nur zu verstehen, sondern auch selbst zu nutzen. Sie sprechen zunächst Hauptwörter aus, die konkrete Dinge in der Welt bezeichnen.
ATMO: Geräusch - Auto, Hase, Papier, Karussell
Sprecher:
Viel schwerer ist es, nicht Gegenstände sondern Handlungen zu bezeichnen. Die kann man schließlich nicht sehen. Die Kinder verwenden deshalb eine Art geistige Brücke. Sie starten mit sogenannten Resultatsverben, die nicht nur eine Tätigkeit, sondern auch einen Zustand bezeichnen können. Wenn eine Schachtel geöffnet werden soll, sagen sie „auf“ und meinen damit sowohl das Aufklappen des Deckels wie die offene Schachtel. Ähnlich setzen die Kinder „weg“, „an“ oder „zu“ ein. Eigentlich wichtigere Verben wie essen, schlafen oder malen verwenden sie erst, wenn sie sich über die Resultatsverben mit der neuen Wortkategorie vertraut gemacht haben. Der Spracherwerb folgt häufig weniger den Regeln der Erwachsenenlogik als denen des einfachsten Lernweges. Das dieser Weg manchmal für einige Zeit in eine Sackgasse führt, aus der sich der junge Geist erst wieder befreien muss, konnte Manuela Friedrich an den Berliner Kindern beobachten.
O Ton 16 - Dr. Manuela Friedrich:
Wenn Kinder zum Beispiel bestehendes Wissen untergliedern, wenn sie also das Wort und den Begriff Blume kennen und sie lernen eine Rose oder eine Tulpe als ganz spezielle Blumensorte kennen, dann haben sie da zum Teil sehr große Schwierigkeiten und werden im Gegenzug vielleicht von ihren Eltern eher überschätzt in diesen Fähigkeiten. Also das Untergliedern, das Umstrukturieren von bestehendem Wissen, das ist ein sehr komplexer Prozess und der ist für die Kinder im Alter von drei bis vier Jahren nicht so einfach wie es uns vielleicht scheint.
ATMO: Geräusch - Testsätze „Der Pinguin am watschelt. Die Sirene am heult. Der Bär brummt. Der Schuh am passt. Das Huhn gackert. Der Maulwurf im gräbt. Der Ring pfeift. Die Ampel zischt. Der Specht klopft. Der Schuh am Fuß passt. Das Kind lacht. Das Baby lacht.“
Sprecher:
Wenn die Kinder mit den Verben und den Hauptwörtern die wichtigsten Bausteine der Sätze erfasst haben, beginnen sie auch ein Gefühl für die Grammatik zu entwickeln. Auch dass lässt sich in den Hirnstrommessungen von Manuela Friedrich verfolgen.
O Ton 17 - Dr. Manuela Friedrich:
Wir haben ganz aktuelle Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder im Alter von 2 Jahren bereits auf grammatisch falsche Sätze anders reagieren als auf grammatisch richtige Sätze. Wenn wir den Kindern also solche Sätze darbieten wie „Der Löwe brüllt“ oder „Der Löwe im brüllt“, dann reagieren sie auf dieses brüllt in diesen beiden Sätzen unterschiedlich. Wir können daran sehen, dass die Kinder Worte schon bestimmten grammatischen Kategorien also zuordnen können, das sie sie als Nomen oder Verb oder Präposition erkennen und dass sie auch schon wissen, wie diese verschiedenen Wortkategorien miteinander kombiniert werden.
Sprecher:
Diese grammatische Erkenntnis führt dann zur Sprachexplosion, die zwischen dem zweiten und dritten Geburtstag stattfindet. Die Kinder saugen neue Begriffe gerade zu auf und kombinieren sie erst in Zweiwortsätzen, dann schnell in Konstruktionen aus mehr Worten bis sie dann mit drei, vier Jahren all ihre Wünsche und Bedürfnisse und Fragen ausdrücken können. Bei rund 6 % aller Kinder kommt dieser Prozess allerdings ins Stocken, sie lernen nur langsam oder nur schlecht sprechen und haben später eine Vielzahl von sozialen Problemen. Mit ihren Einsichten in das lernende Gehirn hoffen die Wissenschaftler, solche Sprachentwicklungsstörungen besser behandeln zu können.
ATMO: Geräusch - Sprachaufnahme
Sprecher:
Ein Drittel der Kinder in der Sprachentwicklungsstudie stammt aus Familien, in denen schon Probleme beim Erlernen des Deutschen aufgetreten sind, sei es beim Bruder oder der Schwester, beim Vater oder der Mutter. Kinder aus solchen Familien haben ein höheres Risiko, selbst Schwierigkeiten mit der Sprache zu bekommen. Tanja Junge weiß, was das bedeutet: Ihre große Tochter hatte mit drei Jahren noch nicht richtig sprechen gelernt.
O Ton 18 - Tanja Junge:
Uns ist aufgefallen, sie fing Mama und Papa erst mit anderthalb an zu sagen, also sie brauchte relativ lange und verständlich machen kann sie sich nur bei mir und meiner Mutter, der Vater versteht sie nicht, in der Kita hat sie arge Probleme, weil sie halt keinen Grundwortschatz hat und jetzt kommen so mit drei Jahren langsam die ersten Wörter, wo man auch was mit anfangen kann. Meine Tochter ist ein Einzelgänger, die anderen Kinder wollen mit ihr nichts zu tun haben, weil sie sie nicht verstehen, es sind wenige, die auf sie eingehen so langsam nach einem halben Jahr, sie selber schafft sich aber lieber imaginäre Freunde, weil mit denen kann sie in ihrer Sprache sprechen, ohne das es Probleme gibt.
ATMO: Geräusch
Sprecher:
Wenn ein Kind Probleme mit dem Sprechen hat, dann heißt es zunächst meist, das wächst sich aus, der ist halt ein Spätentwickler. Wenn sich dann doch nichts bessert, kommen die Kinder zur Logopädin, die mit ihnen die Aussprache oder auch das Sprachverstehen trainiert. Die Erfolge sind von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Eines aber scheint klar zu sein, je früher die Therapie beginnt und je gezielter sie die besonderen Schwächen der Kinder angeht, desto wirkungsvoller ist sie. Eine schnelle und verlässliche Diagnose ist deshalb entscheidend und genau hier will die Deutsche Sprachentwicklungsstudie ansetzen. Schon bei Zweijährigen kann man über gezielte Fragen an die Eltern, etwa nach dem Wortschatz, eine erste Zwischenbilanz in Sachen Sprache ziehen. Kinder, die hier schlecht abschneiden, sind Manuela Friedrich häufig schon bei früheren Tests aufgefallen.
O Ton 19 - Dr. Manuela Friedrich:
Wir sehen da Unterschiede schon bei sehr kleinen Kindern. Wir haben Säuglinge im Alter von zwei Monaten untersucht, und zwar haben wir ihnen lange und kurze Silben dargeboten und wir sehen im EEG, dass das Gehirn automatisch reagiert, wenn eine lange Silbe in einem Kontext von vielen kurzen Silben dargeboten wird. Diese Reaktion, diese Detektion des Unterschieds, die ist bei den Kindern mit einem Risiko für Spracherwerbsstörungen verzögert, zeitlich verzögert.
Sprecher:
Die Ursache für diese Schwierigkeit im Unterscheiden von langen und kurzen Silben vermuten die Forscher in der Verbindung vom Ohr zum Gehirn. Die sogenannte Hörbahn reift normalerweise in den ersten sechs Lebensmonaten aus, akustische Reize werden dann sehr viel schneller vom Ohr ans Gehirn weiter gemeldet. Wenn dieser Entwicklungsschritt rechtzeitig erfolgt, gelingt auch der Spracherwerb, das belegen die Daten der Deutschen Sprachentwicklungsstudie. Verzögert sich dagegen die Reifung der Hörbahn, haben die Kinder ein deutlich höheres Risiko, mit zwei Jahren nur über einen auffällig kleinen Wortschatz zu verfügen. Wahrscheinlich kann das Gehirn ohne die schnellen akustischen Informationen kein Gespür für die Melodie der Muttersprache entwickeln. Das macht es schwer, die einzelnen Wörter aus dem Lautstrom herauslösen. Damit aber fehlen den Kindern die Bausteine zum Verständnis der Sprache, meint Zvi Penner:
O Ton 20 - Professor Zvi Penner:
Es ist zumindest auf der Ebene der Produktion so, dass diese Kinder, wenn sie sozusagen, das Handwerk nicht haben, also das rhythmische Handwerk nicht haben um Wörter zu bilden, ganz bestimmte Wortsorten vermeiden und eigentlich auf Ersatzstrategien ausweichen. Das führt dazu, dass z. B. am Anfang der Wortschatz dieser Kinder sehr sehr klein ist, so dass der fehlende Rhythmus praktisch so eine kleine Lawine los tritt und darunter begraben ist eigentlich die ganze Grammatik, Wortschatz bis zu Satzstruktur schlussendlich.
Sprecher:
Daran ändert sich auch nichts, wenn die Hörbahn schließlich doch ausreift. Es gibt offenbar eine kritische Phase. Wenn in dieser der Zugang zur Sprachmelodie fehlt, weicht das Gehirn auf weniger effektive Ersatzstrategien aus. Das die Babys so Sprache nur schlecht verstehen können zeigt sich schnell auch in ihren Äußerungen.
ATMO: Geräusch - atypisches Lallen
Sprecher:
Ihr Lallen klingt undeutlich, Kaugummi artig. Allerdings führt eine verspätete Reifung der Hörbahn nicht automatisch zu einer Sprachentwicklungsstörung. Ein Drittel der Risikokinder erreicht im Alter von zwei Jahren einen ganz normalen Wortschatz. Dabei sind es vor allem Mädchen, die auch bei schlechten Ausgangsbedingungen den Weg zur Sprache finden. Die familiäre Belastung scheint dagegen keine so große Rolle zu spielen, wie die Forscher ursprünglich vermutet hatten. Derzeit lässt sich die Reifung der Hörbahn nur im Rahmen wissenschaftlicher Studien untersuchen. Eine Reihenuntersuchung von Babys beim Kinderarzt ist nicht möglich. Das ist aber so schlimm nicht, auch Drei-, Vier- oder Fünfjährigen mit Sprachproblemen kann geholfen werden. Entscheidend ist, dass das Gehirn Gelegenheit bekommt, die normalen, effektiven Strategien der Sprachverarbeitung gezielt zu lernen.
ATMO: Geräusch - Kinder beim Spielen
O Ton 21 - Regina Herzog-Stolterfoht:
In unserer Kindertagesstätte ist die Situation folgendermaßen, dass wir zu 98, 99 % Migrantenkinder haben, die zu uns ab 2, 3, 4 Jahren kommen oder gekommen sind und mit einem sehr, sehr schlechten Deutsch, teilweise gar nicht, unvollständig schlecht hierher kommen in die Kita.
Sprecher:
Alltag für Erzieherinnen, und das nicht nur in Berlin, sondern in vielen Großstädten.
| Berlin - Olmoniya poytaxti. Federal maʼmuriy birlik - Yerga tenglashtirilgan. Shpre daryosi Xafeldaryosiga quyiladigan yerda. Shim. va Boltik dengizlariga chiqiladigan kanal lar boʻyida. Maydoni qariyb 890 km. |
Natürlich versucht Regina Herzog-Stolterfoth das Deutsche zu vermitteln, aber das ist schwer, wenn die Kinder untereinander in ihrer Muttersprache, in Türkisch, in Serbokroatisch, reden. Sie ist deshalb immer auf der Suche nach effektiveren Programmen zur Sprachförderung. Im Rahmen einer Studie hat sie auch Materialien erprobt, die Zvi Penner entwickelt hat.
O Ton 22 - Regina Herzog-Stolterfoht:
Also das sind Karten aus festem Karton mit Tieren drauf, die ausgeschnitten sind wie ein Puzzle und wenn die Kinder beide Teile haben, dann passen die auch zusammen, so dass es praktisch wieder eine große Karte wird. Alle Karten liegen auf dem Tisch oder auf dem Boden, dann müssen sie zwei gleiche Tiere raussuchen und dann zusammenlegen, also das ist die Pluralbildung.
ATMO: Geräusch - Kinder beim Plurallernen
O Ton 23 - Regina Herzog-Stolterfoht:
Waren sehr konzentriert, wollten das lernen und es hat ihnen auch wirklich Spaß gemacht und sie sind auch immer lange dabei.
ATMO: Geräusch - Kinder beim Plurallernen
O Ton 24 - Regina Herzog-Stolterfoht:
Die Sprache hat sich schon wesentlich verbessert, das kann man schon sagen. Sie haben versucht genaue Satzstellung zu sprechen, Plural war besser, der Wortschatz war wesentlich erweitert durch die Karten und alle Sachen, die wir ihnen angeboten haben. Und sie sind vor allen Dingen aufmerksam geworden, wenn sie was falsch gesagt haben, dann haben sie, „Oh, ups, da war doch irgendwas“, also sie haben so ein feeling für die Sprache bekommen.
ATMO: Geräusch - Kinder durcheinander
Sprecher:
Kon-Lab nennen sich die Materialien, Zvi Penner hat sie an der Universität Konstanz entwickelt. Mit den bunten Karten sollen die Kinder gezielt nachholen, was sie beim Spracherwerb verpasst haben. Als erstes erspielen sie sich ein Gefühl für Betonungen. In einem zweiten Schritt geht es um Wortgrenzen und Satzstrukturen und am Ende um grammatische Regeln. Aber nie mit erhobenem Zeigefinger, sondern immer nebenbei, spielerisch und ohne Lerndruck. Um den Effekt seines Programms zu untersuchen, hat es Zvi Penner in mehreren Berliner Kitas erprobt und die Sprachkompetenz der Kinder vorher und nachher untersucht.
O Ton 25 - Professor Zvi Penner:
Was wir feststellen ist A) das ist ein beträchtlicher Lerneffekt, den die Kinder aufweisen auf Gruppenebene B) können wir sagen, dass dieser Effekt nicht nur von den guten Lernern kommt, sondern ganz besonders von den ganz schwachen Kindern. Also die schwächsten Kinder werden zu Regellernern also ein Zustand der am Anfang gar nicht vorhanden ist. Wir können eigentlich auch sagen, dass interessante Transfereffekte stattfinden, dass Kinder zum Beispiel, ohne dass sie direkt gefördert werden in diesem Bereich, auch den Wortschatz vergrößern. Das heißt, das Regellernen, zum Beispiel das Erlernen von rhythmischen Regeln führt dazu, dass sonst nicht vorhandene Lernressourcen bei diesen Kindern aktiv werden. So dass die Kinder praktisch freien Kopf bekommen, um Sachen zusätzlich zu erwerben.
Sprecher:
In der Kontrollgruppe, deren Spracherwerb mit traditionellen Methoden gefördert wurde, verbesserte sich die Sprachkompetenz dagegen nicht. Jetzt soll das Kon-Lab Material in mehreren Berliner Bezirken ins Vorschulprogramm aufgenommen werden. Das Beispiel zeigt, es gibt erfolgversprechende Methoden um Kindern zu helfen, die auf dem Weg zur Sprache ins Straucheln gekommen sind. Entscheidend ist, ihnen die Möglichkeit zu geben, die Meilensteine des natürlichen Spracherwerbs nachträglich zu entdecken. Diese Meilensteine hat die Deutsche Sprachentwicklungsstudie jetzt grob kartiert. Die Finanzierung der Studie wurde allerdings nach drei Jahren offiziell beendet. Die Forscher arbeiten in getrennten Projekten mit den Berliner Kindern weiter, denn gerade die Kontinuität der Beobachtung macht die besondere Bedeutung dieses wissenschaftlichen Projektes aus, meint Zvi Penner.
O Ton 26 - Professor Zvi Penner:
Ich denke, dass wir jetzt nach praktisch vier Jahren Befunde haben, die bahnbrechend sind, die sind weltweit wirklich einmalig. Und das ist erfreulich und ich hoffe, dass wir diese Kinder länger verfolgen können, länger dokumentieren können, weil wir denken, dass wir auf einem großen Potential sitzen um diesen Kindern helfen zu können.
Sprecher:
Diese Hilfe haben Kinder mit Spracherwerbsstörungen dringend nötig. Schließlich sind reden und zuhören die menschlichsten aller Fähigkeiten.
ATMO: Geräusch - Spracherwerb im Schnelldurchlauf
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