Demokratisierungsprozeß und Reaktion
Man könnte, etwas dramatisch formuliert, die Geschichte des 19. Jahrhunderts als die Geschichte des Menschwerdens beschreiben, sie ist die Geschichte der Demokratisierung des Begriffs des Menschen, die Geschichte der Überwindung des Kriteriums des Eigentums, aber auch des Geschlechts, der Rasse, der Herkunft etc. als diferentia specifica des Menschseins. Durch die Herausstellung des Begriffs des Menschen als ein Begriff der Realabstraktion, hat die Gattung zu sich gefunden, würde Marx sagen. Jeder reale Mensch, unabhängig vom Eigentum, Herkunft, Farbe, Geschlecht, konkrete persönliche Biographie, Lebensform und Lebensstrategie, also jeder konkrete Mensch auf diesem Planeten ist gleichzeitig Teil des von allen Partikularitäten abstrahierenden Begriffs, des Menschen und somit Träger von Rechten und Freiheiten und als Träger von Rechten und Freiheiten Gleicher unter Gleichen.
Gleichzeitig ist die Geschichte des 19. Jahrhunderts, einerseits durch die Formen der Rationalisierung der Einschränkung des Wahlrechts, oder durch die Legitimationsapologien des Kolonialismus, die Geschichte der Verzögerung dieses Menschwerdungsprozeßes(der Demokratisierung und Gestaltung der Gesellschaft auf der Basis des Sozialvertrages der Gleichen und Freien), andererseits die Geschichte der Agression der Reaktion der Gegenaufklärung, durch den Versuch über den radikalen Nationalismus und Rassismus, die Menschwerdung zu verhindern und diesen Prozeß durch die Paranoia der biologischen Hierarchisierung und Entwertung des menschlichen Lebens zu ersetzen. Eine gegenaufklärische Reaktion die zu der Tragödie des 20. Jahrhunderts geführt hat.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wird durch die massive politische Strukturkrise des Demokratisierungsprozeßes(Schwierigkeit der Anpassung der organisatorischen und institutionellen Struktur der liberalen Demokratie an die erforderlichen organisatorischen und institutionellen Konsequenzen der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts), durch die Ausweglosigkeit des liberalen Paradigmas(1929) und durch die totalitäre Vernichtung des Menschseins durch die sogenannten Alternativen zum liberal-demokratisch-kapitalistischen System(Faschismus, Kommunismus) charakterisiert, gezeichnet und stigmatisiert.
Durch den Kampf um die Erweiterung des Wahlrechts, also um die allgemeine Geltung der politischen Rechte, der schließlich, zumindest in den führenden Industrienationen zum allgemeinen Wahlrecht führt, nach dem I. Weltkrieg auch für die Frauen, wird das Eigentum als Kriterium der Eigenschaft des Staatsbürgers, des citoyen relativiert. D.h. der Demokratisierungsprozeß hebt die Schranken der durch das Eigentum bestimmten Einschränkung des Menschseins auf. Der Kampf gegen den Kolonialismus erweitert diese Aufhebung und schafft, in Kombination mit dem Demokratisierungsprozeß in den Metropolen, die Voraussetzungen der Geltung der Deklarationen des 18. Jahrhunderts tatsächlich für alle. Vorerst auf einer formellen Ebene(formelle Demokratie), die aber einen entscheidenen Schritt für die Realisierung des Projektes der Moderne bedeutet hat, sind die Menschen politisch gleich. Durch das allgemeine Wahlrecht(one man, one woman, one vote) sind formell alle Menschen Träger von Individual- und politischen Rechten und somit erreicht der Menschwerdungsprozeß seinen ersten historischen Höhepunkt. Das bedeutet eine qualitative Veränderung des Feldes der Politik.
Auf der Ebene der materiellen Reproduktion der Gesellschaft, also auf der ökonomischen Produktions- und Distributionsebene, hat sich aber kaum etwas verändert. Wie oben schon erwähnt, führt diese Diskrepanz zwischen Ökonomie und Politik(formelle politische Gleichheit – faktische ökonomische Ungleichheit bzw. politische Organisations- und Institutionelle Strukturen, die der faktischen ökonomischen Ungleichheit entsprechen und die Rechtsordnung bestimmen) und vorallem die Angst der politischen Aufhebung dieser Diskrepanz, als zwangsläufige Folge des allgemeinen Wahlrechts, zu Reaktionen, die die Definition des Menschen durch biologische- eugenische Ideologeme, auf der Basis des Nationalismus, neu belegen wollen. Fast gleichzeitig dazu tritt eine andere Form der Reaktion auf , die diese Diskrepanz als Anlass nimmt, um die Eigentumsrechte und somit den Markt als Kern der materiellen Produktion und Reproduktion der Gesellschaft zu annullieren, seine angenommene Effizienz als ausschließlichen Ungleichheitsmechanismus zu erklären und durch die Negierung von individual- und politischen Rechten die Politik (den Staat) als den Produktions- und Reproduktionsmechanismus zu erkären. Die spontane Ordnungsmacht des Marktes wird durch die bewußte, dem ökonomistisch interpretierten Gang der Geschichte verplichtete, politische Avantgarde ersetzt. Der Markt, der als Medium der Diktatur der besitzenden Klasse angesehen wird, wird durch die politische Diktatur der kommunistischen Partei, durch den totalitären, von der Partei kontrollierten Staat ersetzt. Im Prinzip, Ziel dieser die Gleichheit verabsolutierenden - Reaktion gegen das Projekt der Moderne, also gegen die liberal- demokratische kapitalistische Gesellschaft, ist der liberale(Eigentumsrechte) und der republikanische(potentiell jeder Mensch als politischer Entscheidungsträger) Charakter des Projekts. Dies traf auf eine breite und konstante Räsonanz, weil genau in dem semantischen Inhalt des liberalan und des demokratischen Prinzips die Widersprüchlichkeit des Demokratisierungsprozesses unter den Bedingungen des herrschenden Paradigma des effizienten Marktes manifest wird.
In der kapitalistischen Welt funktionierte der Markt weiterhin in der Logik der reinen Vernunft des ordoliberalen Paradigmas. Das funktionierte aber – mit dem Schönheitsfehler der katharischen Wirkung der ökonomischen Krisen – solange die Eigentümer unter sich blieben. Solange also die Kapitalträger die negativen Folgen der Verfolgung ihrer Privatinteressen der Disziplinierungsfunktion der der Logik der Reproduktion des(für sie) effizienten Marktes unterstellten Politik überlassen konnten bzw. die Politik diese Funktion als ihre Existenzberechtigung ansah. Politisch heißt das, daß das solange gelten konnte, solange der Demokratisierungsprozeß die durch das Eigentum bestimmte oligarische Struktur der Gesellschaft nicht sprengen konnte.
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