• Berufungsgericht
  • Revision der Klägerin
  • Text Entscheidungsgründe




    Download 425.1 Kb.
    bet2/3
    Sana25.03.2017
    Hajmi425.1 Kb.
    #2270
    1   2   3
    Text

    Entscheidungsgründe:

    Am 13. 7. 2013 ereignete sich bei Tageslicht und trockener Fahrbahn auf der L*****straße in D***** auf Höhe eines Schutzwegs ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Lenkerin eines einsitzigen Elektromobils und der Erstbeklagte als Lenker eines vom Zweitbeklagten gehaltenen und bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten Pkws beteiligt waren.

    Die 1930 geborene Klägerin leidet gelegentlich unter Schwindelanfällen. Sie verwendet das Elektromobil, das auch als „Behindertenfahrzeug“ oder „Seniorenfahrzeug“ bezeichnet wird, für Einkäufe oder sonstige Erledigungen. Das Elektromobil hat vier Räder, es ist 147 cm lang und 71 cm breit. Die erreichbare Höchstgeschwindigkeit liegt bei 6 km/h. Die Batterie hat eine Kapazität von 60 Ah, die Reichweite beträgt 47 km. Das Gefährt hat ein Gewicht von 87 kg ohne Batterie, das maximale Benutzergewicht beträgt 150 kg. Das Elektromobil ist mit einer kompletten Lichtanlage, Rückspiegeln, Bremsen und Hupe ausgestattet. Es war am Unfallstag auch mit einem Regenverdeck versehen.

    Das Regenverdeck ist nicht durchgehend durchsichtig, sondern hat auch undurchsichtige Teile. Diese bewirken, dass bei einem Schulterblick nach hinten teilweise ein toter Winkel entsteht und nicht der gesamte Bereich einsehbar ist. Auch bei einem Blick in den Rückspiegel bildet das Regenverdeck ein Sichthindernis, das Blickfeld wird teilweise eingeschränkt. Die Klägerin kann den Kopf ca 70 bis 75° drehen. Dadurch hat sie nicht das gesamte Blickfeld nach hinten. Dieses wird aber durch einen zusätzlichen Blick in den Rückspiegel fast vollständig erreicht, ausgenommen die Sichtfeldabdeckung durch das Regenverdeck. Die Rückleuchten und die Blinker sind durch die Regenfolie erkennbar. Ab einem Blickwinkel von 30° zur Längsrichtung wird der Blinker durch den undurchsichtigen Teil der Regenfolie verdeckt.

    Die 12 m breite Fahrbahn der L*****straße hat im Unfallbereich drei Fahrstreifen, wobei der Erstbeklagte auf dem 3,7 m breiten rechten Fahrstreifen Richtung L***** fuhr. Seine Fahrlinie lag in der Mitte dieses Fahrstreifens, die Fahrgeschwindigkeit betrug zunächst 35 km/h.

    Auf beiden Seiten der Fahrbahn befinden sich Radfahrstreifen mit einer Breite von ca 1,2 m, die durch Sperrlinien vom Rest der Fahrbahn abgetrennt sind und jeweils an die Gehsteige anschließen. Die Klägerin fuhr mit dem Elektromobil ebenfalls Richtung L*****. Sie benützte den Radfahrstreifen und hielt eine Geschwindigkeit von 6 km/h ein. Auf Höhe des Objekts L*****straße 61a führt ein Schutzweg über die Fahrbahn. Die Klägerin beabsichtigte, die Fahrbahn auf diesem Schutzweg zu überqueren. Ca 3 m vor dem Schutzweg verringerte sie ihre Geschwindigkeit ganz geringfügig und begann mit dem Abbiegemanöver nach links. Davor hatte sie über die linke Schulter und auch in den Seitenspiegel geblickt, das von hinten herannahende Beklagtenfahrzeug jedoch nicht gesehen, obwohl es zu diesem Zeitpunkt erkennbar gewesen wäre. Die Klägerin hatte vor dem Linksabbiegemanöver auch den linken Blinker eingeschaltet, allerdings so spät, dass der Erstbeklagte darauf nicht mehr unfallvermeidend reagieren konnte. Sie fuhr ohne stehen zu bleiben über die Sperrlinie hinweg in den vom Erstbeklagten befahrenen Fahrstreifen ein. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Elektromobils betrug 4 bis 6 km/h.

    Unterdessen hatte der Erstbeklagte seine Geschwindigkeit in Annäherung an den Schutzweg auf 30 km/h reduziert. Er hatte das rechts vor ihm auf dem Radfahrstreifen fahrende Elektromobil wahrgenommen. Der Seitenabstand zwischen Beklagtenfahrzeug und Elektromobil hätte, wären die Fahrzeuge auf gleicher Höhe gewesen, ca 1 m betragen. Das Abbiegemanöver der Klägerin war für den Erstbeklagten 1,2 sec vor der Kollision erkennbar. Zu diesem Zeitpunkt war das (richtig) Beklagtenfahrzeug ca 11 m von der Unfallstelle entfernt. Der Erstbeklagte lenkte noch leicht nach links aus, konnte aber kein unfallvermeidendes Verhalten mehr setzen.

    Für die Klägerin wäre die Kollision vermeidbar gewesen, wenn sie vom Abbiegemanöver Abstand genommen hätte. Der Erstbeklagte hätte die Kollision vermeiden können, wenn er mit 8 km/h gefahren wäre und auf das erkennbare Abbiegemanöver innerhalb von 0,8 sec mit einer Vollbremsung reagiert hätte. Wäre die Klägerin auf dem Gehsteig gefahren und hätte sie von dort aus beabsichtigt, die Straße über den Schutzweg zu überqueren, wäre das „Linksabbiegemanöver“ für den Erstbeklagten ca 2,2 bis 2,3 sec vor der Kollision erkennbar gewesen. Hätte er aus einer Geschwindigkeit von 35 km/h mit einer Vollbremsung reagiert, hätte er sein Fahrzeug kollisionsfrei zum Stillstand bringen können. Wäre die Klägerin im Fahrstreifen des Erstbeklagten entlang der „Begrenzungslinie“ (richtig: Sperrlinie) gefahren, hätte der Sicherheitsabstand beim Überholen nur 0,3 m betragen. Der Erstbeklagte hätte auf das Abbiegemanöver der Klägerin nicht reagieren können. Bei jeder dieser Varianten hätte die Klägerin unmittelbar vor dem Abbiegevorgang das Beklagtenfahrzeug erkennen können.

    Durch die Kollision kippte das Elektromobil um. Die Klägerin erlitt Prellungen der rechten Augenbrauengegend und im Bereich der gesamten linken oberen Extremität.

    Die Klägerin begehrte den Ersatz ihres zuletzt mit 8.826,92 EUR bezifferten Schadens. Sie brachte vor, das Alleinverschulden an dem Unfall treffe den Erstbeklagten, dem die Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit und ein Aufmerksamkeitsmangel vorzuwerfen sei. Der Vertrauensgrundsatz nach § 3 StVO gelte hinsichtlich der 83-jährigen gebrechlichen Klägerin nicht. Für den Erstbeklagten habe eine unklare Verkehrslage vorgelegen, weshalb er zu einer entsprechenden Verminderung seiner Fahrgeschwindigkeit verpflichtet gewesen wäre. Er habe auch gegen § 9 Abs 2 StVO verstoßen, weil er der Klägerin nicht das ungehinderte Überqueren des Schutzwegs ermöglicht habe. Die Klägerin sei zur Benützung des Radfahrstreifens verpflichtet gewesen. Selbst wenn dies nicht zutreffen sollte, sei ihr kein Mitverschulden anzulasten, weil die Rechtslage unklar sei und ihr ein versierter Polizist versichert habe, dass sie den „Radweg“ benützen dürfe. Sie habe rechtzeitig den Blinker gesetzt und sei keineswegs „unvermittelt“ abgebogen. Der Regenschutz habe ihre Sicht nicht eingeschränkt. Bei ihrem Blick nach hinten habe sie das Beklagtenfahrzeug nur wegen dessen überhöhter Geschwindigkeit nicht gesehen.

    Die beklagten Parteien wandten ein, für den Erstbeklagten sei die Kollision nicht vermeidbar gewesen. Die Klägerin sei mit ihrem Invalidenfahrzeug ohne vorherige Setzung des Blinkers unvermittelt nach links abgebogen und auf Höhe des rechten Außenspiegels gegen das Beklagtenfahrzeug geprallt. Der Regenschutz habe die Sicht der Klägerin massiv beeinträchtigt. Nach den Bestimmungen der StVO wäre sie zur Benützung des Gehsteigs verpflichtet gewesen. Wäre sie dieser Verpflichtung nachgekommen, hätte sie sich vor dem Überqueren des Schutzwegs in einem (annähernd) rechten Winkel einordnen müssen, sodass das beabsichtigte Fahrmanöver für den Erstbeklagten früher erkennbar gewesen wäre.

    Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf noch eine Negativfeststellung zu der von der Klägerin behaupteten Auskunft eines Polizisten und ging ansonsten im Wesentlichen vom eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt aus.

    In rechtlicher Hinsicht erörterte es, das Elektromobil der Klägerin sei nach seiner Verwendungsart mit einem „selbstfahrenden Rollstuhl“ vergleichbar. Es handle sich um ein Kleinfahrzeug, das gemäß § 2 Abs 1 Z 19 StVO nicht unter den Begriff des Fahrzeugs falle. Nach § 76 Abs 10 StVO dürften mit derartigen Kleinfahrzeugen Gehsteige, Gehwege oder Straßenbankette befahren werden, wenn der Fußgängerverkehr dadurch nicht übermäßig behindert werde. Auch das Befahren der Fahrbahn sei erlaubt, nicht jedoch die Benützung von Radfahranlagen, weil das Kleinfahrzeug der Klägerin nicht als Fahrrad zu qualifizieren sei (§ 8 Abs 4 StVO). Im Wege der Auslegung gelange man zu dem Ergebnis, dass auch das Befahren von Schutzwegen mit (selbstfahrenden) Rollstühlen und ähnlichen Kleinfahrzeugen zulässig sei. In § 76 Abs 1 und 10 StVO bestehe insoweit eine planwidrige Gesetzeslücke, die durch Analogie zu schließen sei. Die Klägerin hätte aber die bevorstehende Änderung der Fahrtrichtung gemäß § 11 Abs 2 StVO rechtzeitig anzeigen müssen und gemäß § 76 Abs 1 StVO die Fahrbahn nicht für andere Verkehrsteilnehmer überraschend befahren dürfen. Statt dessen habe sie den linken Blinker so spät eingeschalten, dass dem Erstbeklagten eine unfallvermeidende Reaktion nicht möglich gewesen sei. Außerdem habe sie vor dem Befahren des Schutzwegs bzw vor Einleitung des Abbiegemanövers den Nachfolgeverkehr nicht ausreichend beobachtet und deshalb das erkennbare Beklagtenfahrzeug übersehen. Es treffe sie daher jedenfalls ein Verschulden an der Kollision.

    Dem Erstbeklagten sei ab Erkennbarkeit der Überquerungsabsicht der Klägerin nur eine Zeitspanne von 1,2 sec zur Verfügung gestanden, innerhalb deren ihm eine unfallvermeidende Reaktion nicht möglich gewesen sei. Davor habe er den für ihn erkennbaren Umständen durch die Verringerung seiner Geschwindigkeit auf 30 km/h voll und ganz Rechnung getragen, weshalb dem Erstbeklagten auch unter dem Aspekt der Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz kein Vorwurf zu machen sei. Das Verlangen nach weitergehenden Vorsichtsmaßnahmen würde zu einer Überspannung seiner Sorgfaltspflichten führen. Ferner habe weder eine unklare Verkehrslage bestanden, noch liege ein Verstoß gegen § 9 Abs 2 StVO vor. Für den Erstbeklagten sei die Kollision ein unabwendbares Ereignis iSd § 9 Abs 2 EKHG gewesen.

    Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

    Es teilte im Wesentlichen die Rechtsansicht des Erstgerichts und ergänzte, die unberechtigte Verwendung des Radfahrstreifens bedeute nicht zwangsläufig, dass die Klägerin vom Vertrauensgrundsatz ausgenommen sei. Subtile rechtliche Erwägungen habe der Erstbeklagte nicht anstellen müssen. Ein „augenfällig“ verkehrswidriges Verhalten der Klägerin, die ja in erster Instanz selbst noch von der berechtigten Benützung des Radfahrstreifens ausgegangen sei, habe nicht vorgelegen. Dass das von der Klägerin benutzte Kleinfahrzeug im allgemeinen Sprachgebrauch als „Behinderten- oder Pensionistenfahrzeug“ bezeichnet werde, lasse für sich allein auch noch nicht darauf schließen, dass es sich bei ihr um eine Person mit „offensichtlicher“ körperlicher Beeinträchtigung iSd § 3 Abs 1 StVO handle.

    Da ein Elektromobil ein „vorwiegend zur Verwendung außerhalb der Fahrbahn bestimmtes Kleinfahrzeug“ sei, seien nicht die Regeln für Fahrzeuglenker, sondern jene für Fußgänger anzuwenden. Beurteilungsmaßstab sei somit § 9 EKHG. Es hätten keine Anzeichen dafür bestanden, dass die Klägerin mit ihrem Kleinfahrzeug nicht geradeaus weiterfahren, sondern den Schutzweg überqueren wolle. Der Erstbeklagte habe seine ohnedies geringe Geschwindigkeit in Annäherung an den Schutzweg daher nicht noch weiter herabsetzen oder ein Hupzeichen abgeben müssen. Er habe die äußerste nach den gegebenen Umständen mögliche und zumutbare Sorgfalt eingehalten. Damit scheide sowohl eine auf das Verschulden des Erstbeklagten als auch eine auf die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs gestützte Haftung der beklagten Parteien aus.

    Die Revision sei zulässig, weil zu der Frage, ob mit dem von der Klägerin benützten „Behindertenfahrzeug“ das Befahren einerseits des Radfahrstreifens und andererseits des Schutzwegs zulässig sei, noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs existiere. Dies gelte auch für die weitere Frage, ob schon die Verwendung eines sogenannten „Pensionisten  oder Behindertenfahrzeugs“ für andere Verkehrsteilnehmer bedeute, dass es sich um einen Menschen mit offensichtlicher körperlicher Beeinträchtigung iSd § 3 Abs 1 StVO handle. Diese Fragen seien über den Einzelfall hinaus von Bedeutung, weil ein bedeutender Markt für Seniorenmobile bestehe, die auch zunehmend im Straßenverkehr anzutreffen seien.

    Gegen dieses Berufungsurteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.

    Die beklagten Parteien beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.

    Die Revision ist aus dem zweiten der vom Berufungsgericht genannten Gründe zulässig. Das Rechtsmittel ist jedoch nicht berechtigt.

    Die Klägerin macht geltend, schon der äußere Anschein eines Gebrechens oder einer Behinderung bewirke, dass sich ein Verkehrsteilnehmer nicht auf den Vertrauensgrundsatz verlassen dürfe. Dieser sei hier gegeben. Die Klägerin habe daher vom Erstbeklagten das Äußerste an Sorgfalt verlangen dürfen, um ihre Gefährdung auszuschließen. § 3 Abs 2 StVO sehe als geeignete Maßnahmen hiefür die Verringerung der Fahrgeschwindigkeit und Bremsbereitschaft vor. Die Klägerin, welche als Benützerin eines Kleinfahrzeugs nicht als Fahrzeuglenkerin, sondern als Fußgängerin zu behandeln sei, habe unter den gegebenen Umständen auch nicht gegen § 76 Abs 4 StVO verstoßen. Sie habe den Schutzweg nicht überraschend „betreten“. Zwar habe die Klägerin nicht rechtzeitig geblinkt, als Fußgängerin sei sie dazu aber auch nicht verpflichtet gewesen. Aus diesen Gründen ergebe sich das Alleinverschulden des Erstbeklagten, zumindest aber eine Verschuldensteilung im Verhältnis 1 : 1. Keinesfalls habe der Erstbeklagte dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 EKHG entsprochen. Bei äußerster Sorgfalt hätte der Erstbeklagte zumindest ein Hupsignal abgeben müssen, als die Klägerin mit dem Linksabbiegemanöver begonnen habe. Bei Abwägung des geringfügigen Verschuldens der Klägerin und der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs wäre von einer Haftungsteilung im Verhältnis 1 : 1 auszugehen.



    Download 425.1 Kb.
    1   2   3




    Download 425.1 Kb.