Predigt am Reformationstag über Röm 7,14–25
Heinz Behrends
»Dein Satz, wir sind uns vertraut bis auf die Haut, geht mir durch den Sinn. Er klingt nicht schlecht, doch hast du nicht ganz recht, das heißt, ob du wohl weißt, wer ich wirklich bin.«
Eines meiner Lieblingslieder von Hermann van Veen ist das, dem Sänger aus Holland.
Wer ich wirklich bin. Kann mein Gegenüber wissen, wer ich bin, wenn ich es selber nicht weiß?
Um Identität geht es in den kompliziert klingenden Worten des Apostels.
Die Geschichte unseres Glaubens ist voll von Männern und Frauen, die darum gekämpft haben. Bis heute.
Da schaut er zurück auf eine Lebensphase von 15 Jahren und urteilt hart über sie. »Lieber hätte ich jemanden ermorden oder die Frau eines anderen verführen sollen«, sagt er. Was ist geschehen?
Mit 22 hat er sein juristisches Magister-Examen mit Auszeichnung abgelegt. So wie sein Vater es sich gewünscht hatte. Wie so oft, wenn man etwas erreicht hat, kommt die Depression. Auf einer Reise bei Stotternheim gerät er in ein schweres Gewitter. Dieser lebensfrohe Mensch verspricht, als er um sein Leben bangt, der Hl. Anna, dass er ins Kloster gehe, wenn er gerettet würde.
So geschieht es. Er feiert noch einmal kräftig mit seinen Kommilitonen, dann steht er vor dem Tor des Klosters, legt alles ab, seine Kleidung, seinen Namen, alles Private. Selbst die Schuld gehört ihm nicht mehr, er beichtet sie einem Vater. Seine Briefe werden geöffnet. Man tut nichts Schlechtes im Kloster, man pflegt die Gütergemeinschaft der Urkirche. Was kann daran verwerflich sein?! Das Leben zeichnet sich dadurch aus, dass man nicht mehr über sich selber verfügt. Aber seine Ängste nehmen zu. Als er die Lesung von der Bedrohung Jesu durch Dämonen hört, ruft er laut« Ich war’s nicht!«. Er beichtet mehr als alle anderen, er nimmt die Regeln im Kloster ernster als die anderen Brüder. Und er arbeitet hart. In drei Jahren ist er Priester, bald Doktor der Theologie. Ämter werden ihm anvertraut. Er hat einen Freund im Kloster, der ihn fördert: Staupitz, seinen Beichtvater. »Es ist nicht Christus, der dich erschreckt«, sagt er, »nein, Christus tröstet«.
Später, nachdem er schon lange das Kloster verlassen hatte, sagt Luther, er sei ein Pfaffe des Teufels gewesen. Um Identität zu finden, gab es nur einen Weg für ihn: den der Abtötung. Befreit von der eigenen Ziellosigkeit hatte er sich sagen lassen, was Recht ist. Ihm geht die reale Einschätzung verloren. »Als schisse ich darein«, sagt er später.
Und dabei ist doch der Weg Ausdruck seiner radikalen Lebenswünsche, der Unabgeschlossenheit seiner Person. Darin ist er mir sympathisch.
Er führt einen Lebensbruch herbei. Später schreibt er: Wer befreit uns von unserem gottlosen Gewissen, das gegen sich selber sündigt? »Ich musste erst in das Urteil Gottes hineinkriechen«.
Lange Zeit vor ihm hat der Apostel Paulus dasselbe Thema zu bewältigen versucht. Die Gebote wollen dem Leben Orientierung geben, zum Leben helfen. Doch sie sind wie ein Gesetz, das verbietet. Es hilft nicht. Es macht aufmerksam auf das, was mir nicht gelingt. Sie klagen mich an. Ich mache sie dazu. Allein komme ich aus dem Dilemma nicht heraus.
Naja, werden die jüdischen Mitbrüder und -schwestern sagen, das Gesetz ist erfüllbar. Die Thora ist gut. Nur die Anhänger der radikalen Lösungen wie Paulus machen sich das Leben schwer. Das ist ein Problem der Radikalen wie auch Luther einer war.
Paulus wie Luther erleben den Bruch und die Erkenntnis, als sie zwischen 35 und 40 sind. Männer in der Mitte ihres Lebens. Sie kommen zu sich selbst.
Wie ist das bei uns? Als Jugendliche lassen wir kein Urteil über uns zu, suchen, quälen uns, kämpfen, um uns zu finden.
Sind die Radikallösungen die unsrigen? Nein. Die Resignation?
Brüche erzeugen Angst. Ich möchte ein anderer sein, es gelingt nicht. Wir suchen Wege.
Die gemeinste Art ist, seine Probleme auf andere zu wälzen. Manche begründen noch mit 40 ihr Verhalten mit dem Fehlverhalten ihres Vaters, ihrer Mutter.
Wieder andere suchen den sanften Weg. Die Therapie. Ich halte viel von einer gelenkten Therapie eines professionellen Menschen. Doch sie neigt dazu, alle anderen Wege zu missachten und sich für den einzigen Weg zu halten.
Ich halte viel von Meditation. Ich verstehe die Faszination. Nur, sie rechnet nicht mit Brüchen, sie verheißt einen gezielten, methodisch abgesicherten Weg, sich selbst zu erlösen.
Und widerstreitet mit der christlichen Grunderkenntnis. Du kannst dich nicht selber erlösen. Identität wird mit einen Gefühl von Harmonie verwechselt.
Die Wahrheit über mich selbst finde ich nicht in mir selber. Luther wird erst frei, als er aufhört, in sich selbst zu graben und sich dem Urteil Gottes überlässt. Da baust du dir in aller Ernsthaftigkeit deine eigenen Maßstäbe, deinen eigenen Lebensentwurf, um die Brüche zu vermeiden. Es geht nicht. Du verurteilst dich selbst. »Was ich hasse, das tue ich«. Du verrätst die Freiheit, die Christus geschenkt hat.
Oder irgendwann arrangierst du dich mit deinem Schicksal. Man kann ja nicht immer kämpfen. Und wirst ein Zyniker. Du weißt alles.
Oder ringst um deine Harmonie. Identität heißt nicht, ständig mit sich selber übereinstimmen. Sondern sich nicht in Brüchen zu verlieren. Der Teufel fordert Harmonie, Gott nicht.
Es gibt ein großes Beispiel in der Geschichte der Kirche, Beispiel eines Menschen, der seinen Bruch mit einer großen Geste der Verneinung eröffnet.
Franz von Assisi. Er bricht mit dem Vater, dem Besitzer der Tuchfabrik, mit seinem Plan, Erbe zu werden. Er zieht seine Kleider aus, wirft sie dem Vater vor die Füße, macht sich nackt und schutzlos. Er hält das durch.
Ich kann das nicht. Aber er lehrt mich: Man kann nicht wirklich leben, ohne in Distanz zu sich selbst zu gehen. Das bedeutet wohl, nicht ohne Trennungen, ohne Schmerz zu leben.
Paulus redet ja recht merkwürdig von seinem Bruch. »Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen. Ich danke Gott.«
Im Nachhinein sieht das so einfach aus. 15 Jahre zieht er als Verfolger durchs Land, dann geht er in die Knie.
Ich danke Gott.
Ich werde nicht aufhören, um meine Identität zu kämpfen.
»Mein Ich werde ich nicht los«, sagt Karl Barth.
Aber alles hängt daran, dass ich das Urteil nicht über mich selber spreche, sondern sprechen lasse.
In das Urteil Gottes hineinkrieche.
Ich danke Gott. Am Ende steht die Liebe.
Ich schäme mich nicht
Predigt über Röm 1,16 f. mit Konfirmandentaufe
Heinz Behrends
Der Predigttext ist komplex, klingt kompliziert und ist beim ersten Hören schwer zu verstehen. Aber er hat eine große Wirkung gehabt. Martin Luther hat sich stark mit ihm auseinandergesetzt und später gesagt, hier habe er seinen befreienden Gedanken der Reformation entdeckt wie das Tor zu einem Paradies.
Lesung Röm 1,16 f.
Ich schäme mich nicht. Manchmal muss ich für etwas stehen. Als Pastor geht mir das oft so. Erst neulich wieder. Ich will ein bisschen entspannende Abwechslung, nicht ständig reden müssen, gehe in unseren »Klosterkrug«, setze mich auf einen der beiden Schemel an der Theke und bestelle meine geliebte Currywurst und ein Glas Bier. Schon setzt sich ein alter Mann zu mir. Ich kenne ihn vom Sehen, er bringt sich mit mir ins Gespräch, erzählt von seinem Leben, seiner Freude an seiner Gesundheit, am Gläschen Bier. Dann fragt er mich plötzlich: »Und was machen Sie hier?« – »Ich bin der Pastor«. »Teufel auch«, fährt es aus ihm heraus. Er hat sich erschrocken, dann lacht er, entschuldigt sich und erzählt jetzt erst recht weiter aus seinem Leben.
Oft muss ich auf Besuchen, auf Partys, in Kneipen nach 23.00 Uhr besonders geradestehen für die Kirche: Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Pillen-Enzyklika, Papamobil, Kirchensteuern, muslimische Selbstmordattentate im Namen Gottes. Manchmal ist das ätzend, meistens ein Vergnügen. Ich schäme mich des Evangeliums nicht, weil ich überzeugt bin.
Das ist aber nicht nur eine Erfahrung des Pastors. Das kennt ihr Konfirmanden auch. »Ich mag Justin Bieber« – »Ach, dieser Schmalzbubi, ich stehe auf Adele« – »Nein, ich höre Elton John, den hört mein Vater auch sehr gern«.
Oder Fußball: »Ich bin Bayern München-Fan, ich habe das neue Trikot von Lewandowski« – »Ich halte zu Hannover 96« – »Ach, du Loser!«
Auch die Erwachsenen kennen das. Von Öko bis Kirche, von CDU bis SPD, von Mallorca bis Langeoog.
All die genannten Bekenntnisse sind immer auch ein Spiel. Es kostet nicht viel. Keiner riskiert mehr als ein bisschen Schmunzeln, vielleicht Unverständnis.
Beim Apostel geht es um mehr. »Ich schäme mich des Evangeliums von Jesus Christus nicht«.
Schämen? Man schämt sich, wenn die intimsten Bereiche berührt werden. Schämen tun wir uns, wenn wir etwas falsch gemacht haben und entdeckt wurden. Wenn wir unseren eigenen Maßstäben nicht gerecht werden.
Uns für die Kirche schämen? Ist das Thema zu intim oder nicht beliebt? Falsches Pferd, sich in Zeiten von Selbstbestimmung und Pluralismus drauf zu setzen?
Schämen für das Evangelium? Die fünf Konfirmanden, die sich aus eigenem Entschluss haben taufen lassen, schämen sich nicht. Was ist das, worauf sie sich einlassen?
Im Unterricht haben wir darüber gesprochen, welchen Gruppen ihr alle angehört: Familie, Fahrgemeinschaft im Bus, Klasse, Verein, Konfis. Und die jeweiligen Ziele haben wir benannt. Bei Kirche habt Ihr gesagt: Zusammenhalt und andere überzeugen.
Das wollen viele, andere auch, habe ich dagegengehalten: Gewerkschaft, Gesangverein, Sekten.
Ich denke heute einen Schritt weiter mit euch und Ihnen. Worum geht es im Evangelium von Christus? Um Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Freiheit und Vergebung.
Barmherzigkeit- den anderen in seiner Situation sehen. Im Hebräischen wie Arabischen ist das Wort für Eingeweide und Barmherzigkeit dasselbe Wort. Die Not eines anderen sehen und im Bauch spüren, dass ich helfen muss. Das ist Barmherzigkeit. Wir kennen das von der Geschichte Jesu vom barmherzigen Samariter.
Ist die Barmherzigkeit Ziel aller gesellschaftlichen Gruppen? Nein.
Die Vergebung – jemanden nicht festnageln auf das, was mal war. Da hat jemand etwas verarbeitet und durchgeknetet, müht sich um einen Neuanfang in aller Scheu und Scham und strengt sich an für einen Neuanfang. Aber die Vergangenheit wird ihm nachgetragen. Das geht nicht, jemanden anzuketten an seine Rasse, seine Herkunft. Vergebung hat Dynamik und löst Erstarrung auf.
Freiheit – Ich bin ein freier Mensch, von Gott geschaffen. Kein Herr dieser Welt hat ein Recht an mir. Die besondere Entdeckung des Paulus ist das. Jede Ethik braucht eine Voraussetzung. Darum überzeugt mich nicht, wenn mir als Kirchenmann entgegen gehalten wird: Ich bin ein guter Mensch. Mit Kirche habe ich nichts am Hut. Als brauchte er für sein Gut-Sein keine Quelle.
Du brauchst, was du dir selber nicht geben kannst: Barmherzigkeit, Vergebung, Freiheit, zusammengefasst in einem Wort. Gerechtigkeit. So nennt der Apostel das.
Das ist das Gesicht, das Profil der Christen. Dafür schämt er sich nicht.
Das kann unsere Gesellschaft gut gebrauchen. Diese Haltung. Wir brauchen in unserer betäubten Kultur, im zerstreuten und überforderten Alltag Menschen, die einstehen, die bekennen, die sich nicht schämen, die nicht um der Beliebtheit willen alles tun.
Unsere Kanzlerin ist in der Flüchtlingsfrage zurzeit so eine Person. Der Ausgang ist offen. Aber sie steht für ein einiges Europa und für das Menschenrecht auf Asyl.
Manchmal seid ihr Konfirmanden uns ein Vorbild. Wenn ihr penetrant auf unsere Schwächen hinweist, auf eine Welt, die unmenschlich ist, die wir Erwachsenen aber mit verantworten.
Leute, die für etwas stehen, kann unsere Gesellschaft gut gebrauchen. Es darf nicht sein, dass ein Formel-1-Fahrer mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit bekommt als eine Altenpflegerin.
Nun fehlt in meinem Gang entlang dem Predigttext noch eines:
»Der Gerechte lebt aus dem Glauben«, sagt Paulus. Das Evangelium ist eine dynamis, eine Kraft, die Energie entfaltet.
Mein guter Wille und mein Gewissen reichen als Kraft nicht aus, um die Gerechtigkeit zu leben.
Die Voraussetzung ist, dass ich angesehen werde von Gott, dass er mir das Gute zutraut.
Für Martin Luther war diese Erkenntnis damals vor 1517 das Tor zum Paradies.
Nach langem Quälen und Denken, ob er gut genug sei für Gott, ob er gerecht genug sei, da entdeckte er in diesem Wort des Paulus den Schlüssel für das Tor.
Erst mal spricht Gott mich gut. Das ist etwa so, als wenn jemand zu dir sagt: Du kannst dich auf mich verlassen. Das ist dann mehr als ein Wort, das breitet sich in der Seele aus. Das tut gut.
Reicht das nicht aus, dass andere Menschen mich gut finden? Nein, denn Beziehungen sind immer gefährdet. Wir messen uns leicht an dem, was wir leisten, was andere für uns tun.
Aus der Verankerung in Gott barmherzig sein, vergebend, frei und gerecht.
Sich dafür nicht schämen, weil das den anderen dient.
Darum frage ich immer zurück, wenn ich in der Kneipe als Pastor angesprochen werde: »Und wo stehst du?«
Brauchen wir das Reformationsfest?
Predigt zu Mt 5,1–11
Eckhard Herrmann
Brauchen wir das Reformationsfest?
Brauchen wir die stets neue Erinnerung an jenen Disput zwischen Luther und der kirchlichen Obrigkeit des frühen sechzehnten Jahrhunderts, in dessen Folge die Christenheit in Deutschland in zwei für lange Zeit unversöhnlich nebeneinander stehende Parteien gespalten wurde?
Brauchen wir diesen Tag, der vom Jahre 1667 an auf Anordnung Kurfürst Georgs II. von Sachsen seinen festen Platz im liturgischen Kalender unserer Kirche fand und der heute immer noch – oder je nachdem, von welchem Standpunkt aus wir’s sehen – in fünf deutschen Bundesländern als gesetzlicher Feiertag begangen wird?
Ich meine: ja. Wir brauchen diesen Tag.
Dies aber freilich nicht im Stile eines großen Jubelfestes, wie es – zweckentfremdet freilich – zur Demonstration ›wahren Deutschtums‹ noch bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert hinein von unseren Vorfahren stürmisch gefeiert wurde.
Nein, wir brauchen diesen Tag, weil er uns Anlass geben kann zu einer ehrlichen und das heißt immer auch selbstkritischen Betrachtung unserer Kirche, ja, zu einer selbstkritischen Betrachtung unseres je eigenen Christseins, mit dem wir diese Kirche auf jeden Fall, positiv oder negativ, mitgestalten und mitprägen.
Selbstbesinnung ist also angesagt.
Und damit die Suche nach einer Antwort auf die stets aktuellen Fragen, welche Kirche wir überhaupt wollen und was wir für die Verwirklichung unserer Vorstellung von Kirche zu tun oder auch zu lassen bereit sind.
Welche Kirche wir wollen, das, liebe Mitchristinnen und Mitchristen, hängt immer von der Zeit ab und den Anforderungen, mit denen sich die Menschen, die in dieser Zeit leben, auseinanderzusetzen haben.
D. h. die Kirche muss fähig und vor allem auch gewillt sein, die bedrängenden Fragen und Probleme ihrer Zeit wahrzunehmen, ernst zu nehmen und Hilfestellungen für deren Lösung zu leisten.
Und das wiederum verlangt von uns, von jeder und jedem einzelnen – denn wir sind die Kirche – ein hohes Maß an Sensibilität, Flexibilität und Weltoffenheit.
Stures Beharren dagegen auf nicht mehr einsehbaren Traditionen bringt der Kirche nur allzu oft den – dann freilich auch berechtigten – Vorwurf der Weltfremdheit und des mangelnden Verständnisses für das, was um der Menschen willen nottut, ein, und schadet darüber hinaus ihrem Ansehen und ihrer Position im Gefüge unserer Gesellschaft.
»Wer will, dass die Kirche so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt«, hat vor kurzem der Teilnehmer einer öffentlichen Diskussion über die Frage, wie zeitgemäß die Kirche sein muss, treffend gefordert.
»Wer will, dass die Kirche so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.«
Das war das Anliegen der Reformation.
Und das muss stets auch unser Anliegen sein, wenn uns etwas daran liegt, dass die Kirche als wesentlicher, mitgestaltender Faktor unserer Gesellschaft ernst genommen werden soll.
Wir können, ja wir dürfen uns nicht in einen goldenen Käfig zurückziehen und so tun, als lebten wir außerhalb der Welt in einem eigenen, unabhängigen, geschützten, heilen Bereich.
Wir leben in der Welt und nehmen – ob wir wollen oder nicht – aktiv teil an allem, was geschieht.
In dieser gesellschaftlichen Position können wir unsere Aufgabe als Christen – ganz egal ob evangelisch oder katholisch – immer nur als Protestanten wahrnehmen.
Als Protestanten im tiefsten Sinne des Wortes: als Menschen, die Einspruch erheben, die sich einmischen bei allem, was dem Leben schadet, indem sie Zeugnis ablegen für den, der uns den Weg gewiesen hat zu einem Leben in Frieden und Freiheit, Jesus Christus.
»Einen anderen Grund kann niemand legen, als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus« (1 Kor 3,11), schreibt Paulus in seinem ersten Brief an die Christen in Korinth.
Was Jesus gedacht, gesagt, getan hat, das ist die Basis, auf der wir stehen und auf der wir auch stehen bleiben müssen; aber was wir – auf diesem Grund stehend – aus unserem Leben machen, wie wir unser Leben gestalten als Christinnen und Christen, als Kirche: das können wir frei entscheiden, zugleich aber immer auch situationsabhängig, indem wir unsere Umgebung und Umwelt einbeziehen und berücksichtigen und die Freiheit auch des anderen wahren.
Zwischen diesen beiden Polen stehend, auf Gott angewiesen und an den Mitmenschen gewiesen, nehmen wir teil an der Verantwortung für die Gestaltung unserer Gesellschaft.
So ist denn der Reformationstag seit jeher ein durch und durch politisches Ereignis, weil uns heute mehr als an jedem anderen Gedenk- und Feiertag des Kirchenjahres unser politisches Mandat als Kirche ins Bewusstsein gerufen wird.
Deswegen, liebe Gemeinde, brauchen wir diesen Reformationstag.
Weil wir die Kirche brauchen.
Nicht die Kirche, die bleibt, wie sie ist; sondern die Kirche, die bleibt.
Seit jeher haben die Seligpreisungen – dieser Abschnitt aus der Bergpredigt Jesu – ihren festen Platz im Reformationsgottesdienst. Die Seligpreisungen konfrontieren uns mit der politischen Dimension unseres Glaubens.
Armut und Gewalt, Hunger und Durst, Barmherzigkeit und Wahrhaftigkeit, Frieden und Gerechtigkeit: das sind die Schlagworte, mit denen Jesus uns vor Augen führt, wie eng unser Glaube mit der Weltwirklichkeit verknüpft ist; das sind die Fakten, denen wir uns als Christinnen und Christen zu stellen haben; die Probleme, an deren Lösung wir uns als Kirche konstruktiv zu beteiligen haben – mit Worten und mit Taten.
Anwalt der Sprachlosen, der Machtlosen, der Hilflosen zu sein mit den Mitteln und Möglichkeiten der Zeit, in der wir leben, einzutreten für eine gerechte Verteilung der Güter – weltweit, aber auch in unserem Lande, in dem immer mehr Menschen in Abhängigkeit und Obdachlosigkeit getrieben werden –, sich einzusetzen für Frieden und Gewaltlosigkeit gegenüber Ausländern und Asylsuchenden, gegenüber Frauen und Kindern, Partei zu ergreifen für alle, die auf der so genannten Schattenseite des Lebens stehen, das ist unsere Aufgabe.
Das war seit jeher unsere Aufgabe.
Und das wird immer unsere Aufgabe bleiben.
Die Aufgabe jeder einzelnen Christin, jedes einzelnen Christen.
Die Aufgabe der Kirche.
Neben, ja vor diesen Forderungen steht bei Jesus immer eine Zusage, eine Ermutigung.
Steht das Versprechen, dass Gott uns nicht allein lässt.
Er ist das Licht, an dem wir uns in der Dunkelheit orientieren können und das uns den Weg weist.
Er ist die Quelle, aus der wir die Kraft für unser Reden und Handeln schöpfen können.
Er ist die feste Burg, die uns Geborgenheit und Sicherheit und Schutz bietet.
Auf ihn können wir uns verlassen, weil er uns nicht verlässt.
Im Vertrauen auf ihn können wir uns, nicht krampfhaft an Althergebrachtem festhaltend, sondern offen für Veränderungen, als Kirche, als Christen, als Protestanten im Alltag bewähren.
Mit Furcht und Zittern glaubensmutig sein
Predigt über Phil 2,12 f. am Reformationsfest
Markus Engelhardt
Liebe Schwestern und Brüder! »Meine Lieben« – mit dieser Anrede beginnt unser kurzer Predigttext. Das hat mich an einen etwas merkwürdigen Schatz im Bücherregal meines Vaters erinnert. Es ist ein Band mit Predigten meines Urgroßvaters. Er war Anfang des letzten Jahrhunderts Pfarrer im Nordbadischen. Er ließ seine in feiner Sütterlinschrift handgeschriebenen Predigten jahrgangsweise zu einem Buch binden. Über jeder dieser Predigten stehen die drei Großbuchstaben »I. H. G.«. Ich habe eine ganze Weile gerätselt, was das zu bedeuten hat, »I. H. G.« »Ich hab’s geschrieben«?! Hm, heutzutage im Zeitalter von Predigten, die man leicht aus dem Internet abkupfern kann, mag das Sinn machen. Aber damals war es ohnehin klar, dass jeder Pfarrer seine Predigt selber schrieb. Nun, irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »I. H. G.« bedeutet: »Im Herrn Geliebte«. So redete mein Urgroßvater die Gemeinde an. Nicht: »Liebe Gemeinde«. Auch nicht: »Meine Lieben«. Schon gar nicht: »Liebe Freunde«. Sondern: »Im Herrn Geliebte«. Macht das einen Unterschied? Ich denke ja. Er führt uns sogar in das Allerheiligste der Reformation.
I.
Liebe lebt davon, dass man einander liebenswert und schön findet. In Gottes Augen sind wir Menschen, wie wir von uns her sind, nun aber alles andere als attraktiv und der Liebe wert. Die Bibel stellt uns im Römerbrief die Diagnose: »Wir sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollen« (Röm 3,23). Auf so eine ernüchternde Erkenntnis reagieren wir gern mit einer Verdoppelung unserer Anstrengungen. Wenn wir nicht liebenswert sind, dann müssen wir uns eben liebenswert machen. Müssen, machen, Anstrengungen erhöhen, intensivieren, effektivieren: das Vokabular beherrschen wir. Ich weiß sehr gut, wovon ich da rede.
Die Reformation hat die Verkündigung der Kirche ganz neu ausgerichtet: Ihr braucht euch nicht wie im Hamsterrad abzumühen, bei Gott einen guten Eindruck zu hinterlassen. Denn »Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren« (Röm 5,8). Lange bevor wir auf den Gedanken kommen können, unsere Verdienste und Vorzüge geltend zu machen, sind wir bereits I. H. G., »im Herrn Geliebte«. Geliebt, nicht weil wir in der himmlischen Buchführung einen so tollen Kontostand aufwiesen, sondern um Jesu Christi willen. Darum ist auch die Kleinigkeit beachtenswert, dass der Predigttext im griechischen Urtext nicht mit der Anrede eröffnet wird: »Meine Lieben«, sondern: »Meine Geliebten«. Mir ist das nur recht. Ich mag es nicht, bei der Begrüßung als »Mein Lieber« adressiert zu werden. Das hat meist einen ironischen oder herablassenden Beigeschmack. Ganz anders bei der Anrede »Meine von Gott Geliebten«. Auch wenn wir sie, weil unsere Sprache sich beständig fortentwickelt, heute nicht mehr verwenden, ist sie doch eine Art Ultrakurzfassung der reformatorischen Kernbotschaft:
Niemand kann sich Gottes Liebe verdienen, niemand braucht sie sich verdienen, sie wird geschenkt. Oder wie es Luther in einem seiner schönsten, tiefsten Sätze gesagt hat: »Gott liebt die Sünder nicht, weil sie schön wären, sondern die Sünder werden schön, weil sie von Gott geliebt sind.« Das ist ja schon die Erfahrung, die hoffentlich ganz viele unter uns in ihrem Leben gemacht haben: wie ich mich gleichsam aus dem Innersten heraus schön gemacht fühle, wenn jemand, an dem mein Auge mit Liebe hängen geblieben ist, mich tatsächlich ›zurückliebt‹. Um wie viel mehr gilt diese urmenschliche Erfahrung dann, wenn es um Gottes Liebe zu uns geht!
II.
Die reformatorische Kernbotschaft in Ultrakurzfassung: das ist ein guter Beginn für einen Predigttext am Reformationstag. Aber die Fortsetzung bringt uns ins Stolpern. Es handelt sich genau genommen um zwei Stolpersteine. Der erste hat es mit der Frage des Zusammenwirkens zwischen unseren Möglichkeiten und der Kraft Gottes zu tun. Seltsamerweise ist es ausgerechnet Paulus selbst, der diese Frage wachruft. An die Christen in Philippi adressiert er die Mahnung: »Schaffet, dass ihr selig werdet«. So übersetzt Luther. Die katholische Einheitsübersetzung macht daraus, gut katholisch: »Müht euch um euer Heil«. Da braucht man sich nicht wundern, wenn reformatorisch gesonnene Christen die Welt nicht mehr verstehen. Wir haben in der Lesung vorhin jene Stelle aus dem Römerbrief gehört, in der Luthers reformatorische Grunderkenntnis in fast sprichwörtlicher Verdichtung dargeboten wird: »So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben« (Röm 3,28). Ja, was nun?? Sola gratia, sola fide, allein durch Gnade und den Glauben, wie es die Reformatoren gelehrt haben – oder eben doch schaffen, wirken und sich um das Heil abmühen? Die Schlange hätte im Garten Eden nicht so leichtes Spiel mit Adam und Eva gehabt, wäre da nicht deren kaum zu bremsender Schaffens- und Betätigungsdrang gewesen. Und auch in das Nachdenken über den heutigen Predigttext bahnt sich die Schlange an genau derselben Stelle einen Weg und stellt ihre versucherischen, so plausibel anmutenden Fragen: Sollte es wirklich zutreffen, dass der Mensch ausgerechnet, wenn es um sein Heil geht, nicht mehr ist als »Stein und Klotz«? Sollte er gerade in seiner Gottesbeziehung nicht gefordert sein als ein tätiges, schöpferisches Wesen, für das es jede Menge zu tun gibt?
Das war der eine Stolperstein. Der andere liegt direkt daneben. Paulus ergänzt nämlich seine Mahnung: »Schaffet, dass ihr selig werdet« um die Näherbestimmung: »mit Furcht und Zittern«. Das weckt keine positiven Bilder – wie mag das einer hören, der an Parkinson leidet? Überhaupt, wer wünscht sich Angst und Furcht?
Ja, es war so, dass Martin Luther mit Furcht und Zittern zum Reichstag nach Worms gereist ist. Wie er dann dort vom Platz gegangen ist, ist bekannt: mit der Roten Karte, als Gedemütigter, für vogelfrei Erklärter – aber in Wahrheit als moralischer Sieger, dem in vielen deutschen Landen die Herzen der Menschen zuflogen.
Ja, es war so, dass viele der im Herbst vor 25 Jahren in der DDR engagierten Christen Furcht und Zittern empfanden, als sie vor den Kirchen die LKW von Polizei und Kampfgruppen aufgereiht sahen. Was daraus wurde, ist bekannt. »Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet – nur nicht auf Kerzen und Gebete«, bekannte später der SED-Häuptling Horst Sindermann. Ja, es ist so, dass wir auch heute, am Reformationstag 2014 Furcht und Zittern empfinden angesichts der Weltlage. In Osteuropa die Wiederkehr russischer Großmachtsträume keine 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, und Herr Putin lacht nur über Europa und das Völkerrecht. Und noch schlimmer, was im Namen Gottes im Mittleren Osten oder in Afrika geschieht, und unsere Ohnmacht dabei.
| Afrika - kattaligi va aholi soni boʻyicha dunyoning ikkinchi qitʼasi. | Ich empfinde da wirklich eine Art Furcht und Zittern, jedenfalls eine große Ratlosigkeit, was hier aus christlicher Sicht zu sagen und zu tun wäre. Hat Margot Käßmann Recht, die auch angesichts des Massenmordens durch den »Islamischen Staat« in bemerkenswerter Konsequenz beim Pazifismus als einzig denkbarer christlicher Option bleibt? Oder hat Wolfgang Huber – er stand heute vor einem Jahr auf dieser Kanzel – Recht, wenn er darauf hinweist, dass das Gebot »Du sollst nicht töten« auch das Gebot einschließt, nicht töten zu lassen – und darum militärische Mittel gegen den IS-Terror in einem klar definierten Rahmen für legitim hält? Ich tendiere inzwischen eher zu Bischof Hubers Urteil, aber wirklich sicher bin ich nicht. Halb bewundere ich sie, halb sind sie mir unheimlich, die da so ganz genau wissen, was richtig und was falsch ist. »Schaffet, dass ihr selig werdet mit Furcht und Zittern« – das ist mir da näher.
Aber wie ist das nun im Blick auf unsere Beziehung zu Gott zu verstehen? Im Grunde müsste man dazu erst einmal eine Schutthalde an Missverständnissen abtragen, die sich um das Begriffspaar »Furcht« und »Gott« aufgetürmt hat. »Furcht Gottes«, dieser Ausdruck ist längst miserabel beleumundet. Auch die frömmsten Eltern würden ihrem Neugeborenen heute niemals mehr den Namen Fürchtegott geben, wie das vor 100 Jahren in gut protestantischen Häusern noch verbreitet war. Die meisten hören heraus: Furcht vor Gott, und stellen sich dabei einen Big Brother-Gott vor, und zwar den im Geist George Orwells, nicht den banalen »Big Brother« von RTL 2. Also einen einschüchternden, auf Schritt und Tritt kontrollierenden, rigoros bestrafenden Gott, der nur Angst macht. Der in unserer Stadt lebende bekannte Psychoanalytiker Tilmann Moser hat diesem Big-Brother-Gott und was er in der Erziehung anrichten kann, in seinem vor 40 Jahren viel gelesenen Buch »Die Gottesvergiftung« ein erschütterndes Denkmal gesetzt.
III.
Liebe Gemeinde, ich habe die beiden besonders herben Stellen unseres Predigttextes mit Bedacht Stolpersteine genannt. Denn Stolpersteine haben ja auch ihr Gutes. Sie zwingen zur Aufmerksamkeit. Es gibt immer mehr Städte, die Stolpersteine zu einem Projekt der Erinnerungskultur gemacht haben, um damit verdrängte Vorgänge der jüngeren Stadtgeschichte dem Vergessen zu entreißen. Solche Stolpersteine gibt es auch in Texten und nicht zuletzt in der Bibel. Und das ist gut so. Was zuerst störend wirkt, kann bei näherem Hinsehen hilfreich sein, um auf vernachlässigte Elemente der biblischen Texte aufmerksam zu machen.
Was aber könnte im Blick auf unseren Textabschnitt so ein vernachlässigtes Element sein? Ich nenne etwas Selbstkritisches. Auf unserer evangelischen Seite gibt es eine große Scheu, dem Menschen für seine Seligkeit auch nur die kleinste aktive Rolle zuzuschreiben – aus der Sorge, man schaffe ein Einfallstor für das, was der Katholizismus die Werkgerechtigkeit nennt. Also die Rechtfertigung nicht allein aus Gottes Gnade, sondern auch aus dem, was wir tun und leisten. Die Folge ist, dass wir Evangelischen, die Kirche des Wortes und des sola scriptura, dazu tendieren, die Bibel selektiv zu lesen: Nur ja nicht zu sehr betonen, dass der Glaube Früchte trägt und Jesus in der Bergpredigt sagt: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«. Bloß nicht den Bibeltexten zu nahe kommen, in denen davon die Rede ist, dass die Taten der Liebe ihren Lohn im Himmel haben werden. Bloß kein Gedanke an eine evangelische »Sonntagspflicht«, daran, dass nicht nur Katholiken am Sonntag am Gottesdienst teilnehmen und die Gemeinde stark machen sollten. Im Gegenteil: lieber den geistlichen Hochmut so weit treiben, dass man sich noch etwas darauf einbildet, die Freiheit gegen die »Sonntagspflicht« auszuspielen. Das schlägt sich dann in der schrägen Wahrnehmung nieder: Die armen Katholiken, die müssen am Sonntag in die Messe – wir aber genießen die Freiheit der Kinder Gottes und erfahren Gott auf dem Schauinsland. Diese ›Freiheit‹ definiert sich dann fröhlich nach dem Lehrsatz: »Kirchliche Sitte im Protestantismus ist es, nicht zur Kirche zu gehen« (Trutz Rendtorff).
IV.
Liebe Gemeinde, ich will nicht, dass die Werkgerechtigkeit fröhliche Urständ feiert. Das kann religiös sensible Menschen seelisch kaputt machen, wie Luther als Mönch erfahren hat und es in manchen katholischen Milieus heute noch so ist. Der entscheidende Prüfstein ist, wie wir es mit dem Rühmen halten. Das kann man bei Paulus in all seinen Briefen immer wieder lesen. Unser Predigttext selber ist es, der uns das Rühmen austreibt. Er macht Gottes Tun, nicht das unsere groß: »Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.« Überall, wo in der Bibel das Thema des falschen und des richtigen Rühmens auftaucht, geht es um das Zusammenspiel von Gott und Mensch. Der Leitton heißt: An Gottes Segen ist alles gelegen; wer sich rühmt, der rühme sich Gottes. Aber dabei verschwindet der Mensch nicht in der Belanglosigkeit. Er wird gewürdigt, Gottes Mitarbeiter zu sein.
Dem Gedanken der Gottesfurcht schließlich können wir am ehesten dann wieder etwas abgewinnen, wenn wir meditieren, was Ehrfurcht eigentlich ist. Es geht in der Ehrfurcht vor Gott um etwas sehr Elementares, das eigentlich jedes Kind schon erfassen kann: dass der Mensch eben nicht, wie es die antiken Philosophen lehrten, das Maß aller Dinge ist, dass ich meinen Lebensentwurf nicht aus eigenen Kräften garantieren und verantworten und ihn schon gar nicht eigenmächtig zum Abschluss bringen kann. Sondern dass ich immer nur der Zweite bin, weil Gott über mir ist und mich und mein Tun heilsam begrenzt. Nicht dass der Mensch in einzigartiger Weise über den anderen Geschöpfen steht, macht sein Menschsein aus, sondern dass er in einzigartiger Weise unter Gott steht, hat der berühmte Freiburger Theologe Karl Rahner gesagt. Ehrfurcht vor Gott heißt so gesehen, dass wir um Gott wissen und mit ihm rechnen und dass wir uns nicht vom verbreiteten Bazillus der Gottvergessenheit anstecken lassen. Ehrfurcht vor Gott hilft dazu, Gott nicht zu verharmlosen, ihn nicht auf banales menschliches Maß zurückzustutzen. Ich bin überzeugt, es gibt keine wirklich religiösen Erfahrungen, wenn da nicht auch das Bewusstsein eines unendlichen Abstands zwischen Gott und mir mitschwingt, also ein Stück Erschrecken vor der Größe und Heiligkeit Gottes. Und wohl auch nicht ohne wenigstens von ferne ein Stück Unruhe zu empfinden angesichts der Frage: Wie kann ich im Urteil Gottes bestehen, wenn ich angesichts einer aktuellen Herausforderung meiner Zivilcourage mich ängstlich wegducke?
Mir hilft dabei, wie Luther im Katechismus bei der Erklärung der Zehn Gebote von der Gottesfurcht redet, nämlich in ganz enger Verbindung mit den Worten Liebe und Vertrauen. Es ist wie eine Überschrift über alle zehn Gebote, dass Luther das erste Gebot so erklärt: »Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.« So kann der Gedanke der Gottesfurcht unser Verständnis Gottes von der Harmlosigkeit befreien und unserer Gottesbeziehung mehr Tiefe und Substanz geben. Es gibt ja auch ein Zittern vor lauter Freude. Deshalb nicht trotz, sondern wegen der Gottesfurcht: »Nun freut euch, lieben Christen g’mein und lasst uns fröhlich singen«.
Kirche des Evangeliums
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