Alles weitere dann!
Alles möglich. Alles machbar. Heute so und morgen so. Und wenn ich es noch mal ganz anders meine, dann eben so. Alles ganz einfach. Freiheit ist gut!
Es gab eine Zeit, da war das nicht so. Zur Zeit Martin Luthers. Wenn der sein Jurastudium beendete und ins Kloster ging, weil ihn der Blitz erschreckte und die Angst überkam, dann klingt das in unseren Ohren, nun ja, ein bisschen seltsam. Überhaupt seine Furcht vor dem letzten Gericht, sein Ringen, hier schon, um den gnädigen Gott. Und doch: Die Angst ist nicht kleiner geworden, Krieg und Verwüstung bestimmen die Lage, Hunger und Elend, Terror und Flucht. Die Welt scheint aus dem Ruder zu laufen, wieder einmal, und keiner da, der dem führungslosen Karren die Richtung weist. Und wie lange ich es selbst noch schaffe im Beruf, in der Familie, unter den Bedingungen, die sind, wird sich zeigen, einfach ist’s nicht!
Für Luther war es die Angst, vor Gott nicht bestehen zu können. Für uns heute ist es die Angst, vor den anderen, nicht mal vor uns selbst bestehen zu können. Das Ergebnis ist dasselbe. Das Leben verdampft, zerfasert, bricht weg. Wir haben uns zur »Risikogesellschaft« entwickelt, sagen kritische Beobachter. Nicht nur dass jeder in dem, was er tut, vor der Aufgabe steht, zu reüssieren. Er muss es nicht nur, um auf sich aufmerksam zu machen, sondern er muss es beim nächsten Mal wieder, aber anders, denn sich auf etwas einzulassen, was war, ist für den Fortgang keine Gewähr. Selbstrechtfertigung als Dauermodus. Alles das geht eine Weile, aber einmal auch nicht mehr. Und dann wäre es gut, einen Gesprächspartner zu haben. Einen, der sich mit den Mechanismen des Lebens schon ein bisschen befasst hat. Nichts anderes taten die Reformatoren, denn ihre Fragen nach Gott waren immer auch Fragen nach dem Grundklang menschlichen Lebens. Menschliches Leben?
Meine ja nicht, das Leben eines Menschen hänge vom Wert und Umfang seiner auf die Waage gebrachten Leistung ab. Überhaupt hängt der Wert deines Lebens keine Sekunde von dem ab, was es mit dem Kopf oder der Hand und dem Fuß zu stemmen in der Lage ist. Deshalb täten wir als Christenmenschen gut daran, vom Wert des Menschen gar nicht zu reden, deutlich zurückhaltender auch damit zu sein, auf dieses oder jenes menschliche Leben stolz zu sein. Mit dem Stolz des menschlichen Lebens hat es Gott nicht, Gott sei Dank! Schönheit, tolles Auftreten, strahlende Zähne, Dauerverfügbarkeit, Dauer-Gute-Laune: Alles das mag der Geist der Zeit sein, beeindruckt Gott aber nicht eine Sekunde. Gott setzt dem allen sein Eigenes entgegen: Nicht deine Taten und Untaten machen’s! Nichts von dem, was du tust! Dein Glaube macht’s! Dein Glaube an den, der dich will als »neue Kreatur«!
Freiheit also. Ungeschminkt. Ungeschmälert. Freiheit für uns, die es gewohnt sind, Freiheit für uns selbst nur immer hoch, für andere so klein wie nur möglich zu halten. »Schon immer so!« heißt es dann, wenn an Besitzständen nicht gerührt werden und alles so bleiben soll, wie es ist. Und »was aus dem schon werden soll« wird als Frage in Sekundenschnelle erledigt, wenn man dem, nach dem gefragt wird, ohnehin nicht über den Weg traut. Der hat es gestern nicht gepackt, also packt er es auch nicht morgen. Gegenwart? Das ist, was ich aus der Vergangenheit weiß. Und Zukunft? Die Wiederholung des immer Gleichen. Die Botschaft der Reformation ist gerade das Gegenteil: Gott traut uns für den morgigen Tag etwas zu, was wir nie für möglich gehalten hätten!
Freiheit ist dann entscheidend mehr als die multioptional gepflasterte Wahl der genehmen Marke und/oder des Urlaubsortes. Mehrwert des Lebens, Spielraum gegenüber den alltäglichen Leistungs- und Rechtfertigungsattacken, wirkmächtiger Einspruch gegenüber den übertriebenen Erwartungen an mich selbst, die Handbreit Wasser unter dem Kiel meines Lebensschiffchens in stürmischen Zeiten. Reformatorischer Glaube wird nicht damit aufhören, immer neu darauf zu verweisen, dass der Mensch deutlich mehr ist als die Summe dessen, was er von sich selbst weiß oder andere meinen von ihm zu wissen. Er wird es mit dem Bild des alten Psalms (Ps 8) halten, der den Menschen von einer Würde umkleidet rühmt, die ihn ein Tüttelchen kleiner nur als Gott selbst sein lässt. Im Umgang mit unseren Zeitgenossen gilt das dann auch und möchte sich verantwortlich ins Werk setzen: Ihr Kinder in der Schule, ihr Patienten in der Klinik, ihr Mitarbeiter/innen in den Unternehmen, Redaktionen und Verwaltungszentren, ihr vielen auch, die ihr aus den Ruinen eurer Städte und Länder über gefährliche Wege zu uns nach Deutschland geflohen seid, und alle ihr anderen: nur ein Tüttelchen kleiner als Gott! Und so auch will ich es für mich selbst glauben: Fürchte dich nicht! Der dich gewollt hat, noch ehe du dir darüber selbst hast Gedanken machen können, will dich, geht lange und längste Wege dafür! Sei, der du bist! Alles weitere dann!
Quellgrund der Liebe
Kindergarten ist gut. Und Krankenhaus und Altenheim auch. Nichts wäre die Kirche ohne die Nächstenliebe. Aber noch viel wichtiger ist der Stoff, aus dem sie ist. Das Ganze steht auf dem Spiel. Die Kirche schützt den Boden, aus dem die Aufgabe kommt. Kirche ist nicht die Liebe. Aber sie hütet sie, sie ist das Wissen vom Quellgrund der Liebe.
Dass Gott die Liebe ist, ist der Grund aller Humanität. Und wenn wir uns tausendmal aneinander vergehen, die Würde des Menschen ist unantastbar. Wir sind die Liebe nicht, machen die Liebe nicht, sind die Erfindungen Gottes und gehen der Liebe bestenfalls zur Hand. Ohne jüdisch-christliche Wurzel ist die Humanität eine abgeschnittene Blume. Ich und du: ein Hauch vom Atem der Welt, wir alle. So will es Gott. Und so ist es unsere Würde. Und darin uns bestärken, daran uns zu erinnern, dazu uns zu mahnen, dazu ist die Kirche da.
Kirche weiht ein in das Wissen der Menschheit, erzählt die Bilder vom Anfang und Ziel des Heils. Gut, dass du da bist, sagt sie dem Neugeborenen bei der Taufe: Du bist einzig, wunderbar, nicht irgendwelcher Zwecke wegen, einzig darum, dass es dich gibt! Und Kirche traut Menschen, erklärt ihre Liebe von Gott gesegnet. Weder kann man ernsthaft Kinder auf eigene Rechnung wollen noch eine Ehe schließen auf Verdacht. Für Kinder müssen wir uns vom Leben berufen wissen, und bei der Ehe ein Muss ist wollen, was ich nicht garantieren kann, sonst sollte man sich loslassen für den Richtigen bzw. die Richtige. Und zu Grabe kommt, was sterblich ist, die Fahrt aber geht weiter, hinter den Horizont, ins Haus des Lichts. Darum hat jeder Abgelebte ein Recht auf liebevollen Nachruf und ein Gebet, sonst fällt doch alles auseinander.
Wer aber sagt es uns? Wer bürgt dafür? Wer besorgt die Sonn- und Feiertage? Wer hütet den Herd der Gewissheit und des Trostes? Wer hört zu, stiftet zu Hilfe und Geselligkeit an? Die Kirche tut, was sie kann. Kirche aber kannst du nicht selber sein. Auch deine Sprache hast du nicht für dich selbst. Da ist ein Vorrat, und daraus nimmst du. Und weil du aus dem Schatz des christlichen Glaubens so viel nimmst, kümmerst du dich darum, dass das so bleibt. Mit Engagement. Aber auch mit der Münze. Es gibt bessere Erfindungen als die Kirchensteuer. Nicht viel besser, sie für die Nachkommen zu sparen. Von Kirchen, die stimmen, werden die Nachkommen mehr haben: damit es zum Humanen auch für sie und deren Kinder noch reicht!
Kostbarer Schatz
Dass ich protestantisch bin und du katholisch, dafür können wir beide nichts. Es ist ja viel Erbe, kaum eigene Entscheidung dabei. Je südlicher geboren, desto wahrscheinlicher römisch-katholisch. Nur weil der Retter der Reformation, König Gustav-Adolf, aus Schweden kam, ist es im Norden andersherum.
Die Bibel ist uns gemeinsam. Ausgangsort. Basisurkunde für uns beide, wenn auch die in Luthersprache geschriebene körniger daherkommt als die auf Zimmertemperatur gehaltene Universalübersetzung. Und gemeinsam haben wir die großen Glaubensbekenntnisse, das Vaterunser, die Ahnung einer Weltfamilie, die Auferstehungshoffnung. Und gemeinsam, auch das, haben wir ein ethisches Netz, die Zehn Gebote und das Gebot der Nächstenliebe.
Verschieden sind unsere Vorstellungen von Kirche. Für Katholiken, hat einer mal gesagt, entscheidet sich das Verhältnis zu Gott an der Haltung zur Kirche, bei den Protestanten ist das umgekehrt. Für Protestanten ist Kirche nicht so wichtig, sie haben ›direkten Draht, ohne irdischen Zwischenhandel‹. Gut, wenn das so ist, doch wenn nicht, ist man als Evangelischer mit seinem Gewissen ziemlich allein. Man muss schon eine Art Begeisterung haben zu Jesus, muss sich aus dessen Geschichten und Worten eine Hütte bauen, sonst kann es einsam werden. Katholiken haben eine große heilige Familie um sich her, heiliggesprochene Frauen und Männer quer durch die Jahrhunderte sind ein Team, das zur Rettung der Seelen im Dienst steht. Diese Fürbitter bei Gott, der Christus vorneweg, bilden den ›Mauerschutz‹ der Kirche. Der macht sie so kostbar, weil das Einzelmenschlein ansonsten alleine dastünde in den Ängsten (die oft erst von der katholischen Erziehung erzeugt werden). Und dann Christi Sterben: Die Katholische Kirche inszeniert es in der Eucharistie jeweils neu und bringt dem Vater das Opfer seines Sohnes allemal neu dar. Dieser erlässt dann die Sünden um der Liebe des Sohnes willen. Bei uns Evangelischen versöhnt Gott die Welt mit sich selbst. Gott bittet uns, dem Werk der Liebe zu vertrauen. Und wenn wir einander zu Brot und Wein werden, dann erbaut sich der Leib Christi immer wieder neu. So einfach und klar ist das.
Die Evangelische Kirche hat viele Meinungen und Grüppchen und Kirchlein in sich. Das ist Reichtum und das ist Schwäche, beides zugleich. Die römisch-katholische Kirche hat andere Defizite: die Diktatur des Zölibats, die Priester- und Männerdominanz, die Missachtung des persönlichen Gewissens. Wer weiter Schwangerschaftsberatung mit offener Entscheidung wolle, habe ein objektiv falsches Gewissen, und wer als kirchliche Mitarbeiterin die Ehe mit einem geschiedenen Partner eingeht, die verliert in der Gemeinde ihren Arbeitsplatz. Noch immer ist das so und leider nicht anders. Mit Bruder Papst als unfehlbarer Lehrautorität ist das entfernt sogar schlüssig. Aber ein Mensch als Hort der Wahrheit? Das geht nicht, zu viel der Ehre, sagt da der Protestant! Und bestaunt schon mal die prächtig inszenierten Hochämter, ohne sich im nächsten Augenblick nicht schon wieder nach den freisprechenden, fröhlichen Gottesdiensten zu sehnen, von denen er wünscht, dass sie noch immer und immer wieder neu (so der Heilige Geist es will) gelingen. Ja, und dann sind da auch noch die Kirchentage mit weit geöffneten Türen und Ideen und Proben weit über die Zeit hinaus. Und wenn das Besondere dann nicht mehr nur das Außergewöhnliche ist, sondern Aufnahme findet im Programm des Gewöhnlichen, dann könnte es eines gar nicht so fernen Tages dazu führen, dass der Heilige Geist seiner Kirche noch ganz andere Wege weist, die Kostbarkeit seines Schatzes in der Welt bekannt zu machen.
Bausteine für Gottesdienste
Wie wir wurden, was wir sind: EVANGELISCH!
Theaterstück zu den Anfängen der Reformation
Christel Weber
Rollen:
Sohn Jakob
Tochter Magdalena
Vater Heinrich
Mutter Anna
Nachbar Thomas
Nachbarin Annegret
Einwürfe aus dem Publikum
Katharina von Bora
Luther
Tetzel
Stimmen aus dem Volk
Zwei Erzähler/innen aus der Zeit von heute
1. Szene: Die Zeitreise geht los
Erzähler/in 1:
Wir machen heute eine Reise. Mit euch allen! Aber keine gewöhnliche Reise: Wir machen eine Zeitreise! Wir wollen mit euch in das Jahr 1517 reisen. Ja, das ist jetzt schwer zu rechnen: wie viele Jahre liegt denn 1517 zurück? Na? (die Leute ausrechnen lassen) … Jahre! Das ist wirklich lang her! Wie sahen die wohl damals aus? Ich meine, was haben die z. B. angehabt? … Jeans? Piercing? …
Also, wenn wir jetzt in das Jahr 1517 zurückreisen, dann müssen wir auch rückwärts zählen. Aber erst gut hinsetzen und anschnallen nicht vergessen! Wenn man so durch die Zeit geschleudert wird, da kann’s einen schon mal aus der Bahn werfen. Alles klar? Dann geht es jetzt los! Also: alle mitzählen! 10, 9, 8, 7
Erzähler/in 2 kommt dazu.
Erzähler/in 2:
Halt!
Erzähler/in 1:
Was heißt hier: »Halt!«?
Erzähler/in 2:
Warum soll ich in das Jahr 1517 reisen? Haben wir nicht genügend Probleme im Jahr 2…, heute? Frag mal die Leute auf der Straße, was die im Moment interessiert. Ich sag’s dir. DAS interessiert sie: Z. B. ob ihr Geld auf der Bank noch sicher ist, ach, ich frag sie einfach mal selbst, was sie im Moment so beschäftigt … Na also, da hörst du es! Probleme haben wir heute auch genug. Was soll ich im Jahr 1517?
Erzähler/in 1:
Na, da hat die Reformation angefangen!
Erzähler/in 2:
Die Re-re- die … was für eine Formation?
Erzähler/in 1:
Die Re-for-ma-tiooooon!
Erzähler/in 2:
Was ist denn das schon wieder?
Erzähler/in 1:
Das ist ein Fremdwort. Aber du hattest doch Latein in der Schule!?
Erzähler/in 2:
Reformation … ach ja, das kommt wahrscheinlich von »reformare«, und das heißt wiederum: verändern, wieder zum Ursprung zurückbringen. Also heißt »Reformation« Veränderung.
Erzähler/in 1:
Sag ich ja!
Erzähler/in 2:
Was?
Erzähler/in 1:
Na ja, dass es eine aufregende Zeit war, 1517. Weil sich so viel verändern musste – so wie heute!
Erzähler/in 2:
So wie heute?
Erzähler/in 1:
Ja, du hast es doch selbst gesagt: dass wir heute eine Menge Probleme haben und vieles verändern müssen. Damals 1517 hat sich was verändert. Und daran kannst du sehen, dass man nicht alles nur hinnehmen muss, die Achseln zucken und so. Du kannst zu jeder Zeit etwas ändern, wenn du willst … aber das wollte ich dir und den anderen eigentlich zeigen auf unserer Zeitreise …
Erzähler/in 2:
Und warum fängst du nicht an?
Erzähler/in 1:
Na, ich sag jetzt lieber nichts. Also: fangen wir an! (geht zum Schlagzeug) Festgeschnallt? O. K.? 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, NUUUULLLLL!
Musik (Schlagzeug und E-Gitarre, erst laut, dann leiser werdend, überblenden mit Renaissancemusik von CD)
2. Szene: Zuhause bei Familie Unruh in Wittenberg
Erzähler/in 2:
Wow! Wir sind im Jahr 1517!
Erzähler/in 1:
Nun komm schon, man darf uns hier nicht sehen. Wir sind nur Zuschauer! (beide ab auf die Bank vor der Sakristeitür)
Mutter Anna deckt den Tisch (streng).
Anna:
Magdalena, hilf mir den Tisch zu decken. Mein Gott, siehst du nicht, dass ich alle Hände voll zu tun habe?!
Magdalena hat verträumt an den Kräutern gerochen, summt, und erschrickt jetzt.
Magdalena:
Ja, natürlich, Frau Mutter (lässt eine Tasse fallen, die zerbricht). O nein, Frau Mutter, das wollte ich nicht!
Anna:
(schreit) Du ungeschicktes Kind! Sieh dir das an! Woraus willst du jetzt trinken? Wir haben doch nur fünf Tassen. Und du weißt genau, dass wir kein Geld haben, eine neue zu kaufen. Warte, bis der Vater heimkommt!
Magdalena:
(weint) Es tut mir doch so leid, Frau Mutter! Ich wollte Ihnen keinen Kummer machen!
Anna:
So wirst du nie einen Mann bekommen! Träumst den ganzen Tag durch die Gegend und bist zu nichts zu gebrauchen! Sag: Was hast du eben gemacht?
Magdalena:
Nichts Verbotenes, Frau Mutter! Ich habe nur mein kleines Kräuterbeet bewundert. Hier, Frau Mutter! (zeigt Rosmarin) Wissen Sie was? Ich glaube, Rosmarin hilft, wenn man zitternde Hände hat (macht es vor). Ich habe es dem Großvater gegeben, und er sagt, das Zittern ist schon viel weniger geworden (lächelt). Und, Frau Mutter, ich habe das Rosmarin auch der Lise gegeben. Sie wollte es unbedingt haben, weil ich ihr gesagt habe, dass Rosmarin auch hilft bei untreuen Männern. Und ihr Johannes …
Anna:
Nichts da! Nichts wirst du mehr tun! Und du wirst dein Beet zerstören, ist das klar?! Weißt du denn nicht, in was für eine Gefahr du dich begibst? Wenn Großvater das weitererzählt und die Lise, dann kann es passieren und irgendjemand klagt dich als Hexe an …
Magdalena:
Frau Mutter, ich bin doch keine Hexe. Das wisst Ihr!
Anna:
Was weiß ich, Magdalena? Ich weiß nur, dass die Zeiten hart sind, und die Menschen nach Schuldigen suchen für ihr Unglück. Annegret, unsere Nachbarin, hat gehört, dass die Pest wieder näher kommt. In Bernau sind an dieser furchtbaren Krankheit schon über 1000 Menschen gestorben. Das ist fast die Hälfte der Menschen, die dort wohnen. Wenn die Pest zu uns kommt – was Gott verhüten möge – dann werden sie auch hier nach Schuldigen suchen …
Magdalena:
Aber Mutter, bin ich denn schuld, wenn die Pest kommt?! Bin ich schuld, dass wir so arm sind? Bin ich schuld, wenn unsere Nachbarn ihren ganzen Hof, ihr Hab und Gut, dem Grafen von Wittenberg geben müssen, weil sie ihm die Miete nicht mehr bezahlen können?! Aber wenn es nach Ihnen, Frau Mutter, geht, dann bin ich noch selber schuld, dass ich nicht zur Schule gehen kann …
Anna:
Schweig jetzt, Magdalena, und versündige dich nicht! Niemand weiß, ob nicht der Teufel in der Nähe ist und nach uns greift. Bete, Magdalena, bete zur Jungfrau Maria und allen Heiligen, bete, dass sie dir deine ungehörigen Gedanken vergeben. Bete, dass der Teufel ablässt von dir. Bete, mein Kind!
Magdalena:
Frau Mutter!
Anna:
(schreit) Bete, mein Kind! Und geh endlich!
Magdalena geht schnell ab.
Erzähler/in 2 und Erzähler/in 1 kommen durch den Gang nach vorne.
Erzähler/in 2:
Mann, bin ich froh, dass ich die nicht als Mutter habe. »Frau Mutter!« und »Sie!«
Erzähler/in 1:
Das war ganz normal. Die Kinder hatten viel Respekt vor ihren Eltern … damals. Sie haben – fast – immer getan, was die Eltern wollten. Ohne Widerrede!
Erzähler/in 2:
Aber die Mutter ist ja völlig durchgedreht! So streng!
Erzähler/in 1:
Ja, streng ist sie. Aber durchgedreht, das glaube ich nicht. Ich glaube, die Mutter hat einfach selbst Angst. Angst um ihre Familie. Angst um Magdalena. Angst vor dieser schrecklichen Krankheit. Wie hieß die noch mal? Pest! Du schreist ja vielleicht auch, wenn du Angst hast, oder?
Erzähler/in 2:
Hm.
(Beide gehen nach vorne rechts zur Sakristeitür, setzen sich da.) Sag mal, gibt es die Pest heute auch noch?
Erzähler/in 1:
Es gibt sie noch, aber ganz selten und nicht bei uns. Und man kann sie mit Medikamenten ganz gut bekämpfen.
Heinrich kommt mit Jakob heim.
Heinrich:
Mahlzeit, meine liebe Frau.
Jakob:
(aufgeregt) Mahlzeit, Frau Mutter. Haben Sie schon gehört?
Anna:
Was, Jakob, mein Sohn, soll ich gehört haben?
Jakob:
Jetzt sagt auch der Thomas von nebenan: Die Sonne dreht sich gar nicht um die Erde. Die Erde soll sich um die Sonne drehen. Wir sind gar nicht der Mittelpunkt des Universums!
Erzähler/in 2:
(laut) Gott sei Dank!
Anna:
Schweig, Jakob! Was du redest, ist Teufelszeug. Die Heilige Kirche verbietet es, so etwas zu sagen! Und du weißt, dass wir über allem der Kirche gehorchen müssen … Und du, Heinrich, mach mir nicht auch noch mein zweites Kind rebellisch. Wir werden das alles büßen müssen!
Jakob:
Aber, Frau Mutter, vielleicht irrt sich ja die Kirche!
Anna:
Die Heilige Kirche kann sich nicht irren!
Jakob:
Aber Frau Mutter, die Priester und der Papst – das sind doch auch Menschen!
Anna:
Aber, aber … sie sind nicht wie wir. Sie sind anders! Sie sind Gott näher!
Heinrich:
Jakob, geh nach draußen und lass uns allein! (Jakob geht)
Anna, ich bitte dich!
Anna:
Du machst es dir leicht, Heinrich!
Heinrich:
Und du machst es dir auch leicht, Anna!
Anna:
Ich mache es mir leicht?! Ich habe im letzten Jahr ein Kind verloren, die Schafe sind uns ausgerissen, die Rüben sind auf dem Feld verfault – und du sagst, ich mache es mir leicht? Weißt du, was ich denke: Der Priester hatte Recht, als er gesagt hat: Gott will uns wahrscheinlich strafen für irgendetwas Böses, das wir getan haben. Gott ist böse auf uns.
Heinrich:
Aber warum sollte Gott böse auf uns sein? Natürlich: Wir sind keine Engel …
Anna:
Du hast doch einen Sack Korn versteckt; den hast du dem Grafen nicht gegeben.
Publikum und Sprecher/innen:
7. Gebot: Du sollst nicht stehlen!
Heinrich:
Soll ich meine Familie verhungern lassen?
Anna:
Aber es war Unrecht! Es ist Sünde! Und glaubst du, ich hätte nicht gesehen, wie du der Annegret hinterherschaust?
Publikum und Sprecher/innen:
6. Gebot: Du sollst nicht ehebrechen!
Außerdem: 10. Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.
Anna:
Und du hast über Nachbar Philipp gelästert.
Heinrich:
Er hat auch über mich gelästert.
Publikum und Sprecher/innen:
8. Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden gegen deinen Nächsten.
Anna:
(verzweifelt) Jeden Tag verstößt du gegen die Gebote! Und dann Magdalena mit ihren geheimnisvollen Kräutern, und jetzt kommt auch noch Jakob und will mir erzählen, dass alles falsch ist, was die Kirche uns lehrt? – Heinrich, der Teufel greift nach uns, er reißt schon seinen Rachen auf, ich spüre das …. wir müssen etwas dagegen tun!
Heinrich:
Ist ja gut, Anna! Ist ja schon gut! Du hast ja Recht: Wir schaffen es einfach nicht, Gottes Gebote zu halten … wir Menschen sind zu schwach … (Pause)
Aber ich habe eine Idee!
Lied
3. Szene: Ein Ablassbrief ist das Heilmittel – oder nicht?
Magdalena und Heinrich kommen aus zwei Richtungen und stoßen aufeinander.
Magdalena:
Herr Vater!
Heinrich:
Wo kommst du her, meine Tochter?
Magdalena:
Die Mutter hat mich zur Kirche geschickt. Sie war so außer sich, weil ich mit meinen Kräutern … na ja … Ich habe eine ganze Stunde gebetet, zur Jungfrau Maria und allen Heiligen, die ich kenne … Herr Vater, ich habe schon so viel gebetet, ich habe so viele Kerzen angezündet, ich bin auf den Stufen der Kirche hochgerutscht mit meinen Knien, weil Mutter das wollte. Und Sie, Herr Vater, Sie selbst geben ja auch dem Priester jede Woche etwas Geld, damit er für uns eine Messe liest und – trotzdem: Die Mutter findet keine Ruhe.
Heinrich:
Sie hat Angst, dass Gott böse auf uns ist.
Magdalena:
(eindringlich) Herr Vater, dann bitten wir Gott um Verzeihung!
Heinrich:
Aber wenn Gott richtig zornig auf uns ist! Sieh dir unsere Stadt an. Diese Welt! Gott hätte sicher Grund, zornig zu sein.
Erzähler/in 1:
(laut von hinten) Das ist wohl wahr!
Magdalena:
Aber Gott ist doch nicht nur zornig. Er liebt uns doch auch! Und er vergibt uns, wenn wir ihm alles ehrlich sagen.
Heinrich:
Aber vielleicht reicht das nicht, Magdalena. Vielleicht will Gott noch mehr von uns! Ein Zeichen unserer Reue! Ein großes Zeichen! Komm mit, Magdalena! Ich habe gehört, ein berühmter Prediger ist ganz in der Nähe. Die Leute strömen von überall her, um ihn zu hören …
Auf dem Marktplatz. Viele Leute sind schon da bzw. kommen aus dem linken Seitenschiff, in der Mitte ein Podest für den Prediger, daneben ein Aufpasser mit der Geldkiste
Magdalena:
Vater, wie heißt der Prediger? Und wer ist der Mann mit der Truhe daneben?
Heinrich:
(leise) Der Prediger, das ist Johann Tetzel. Er ist von Erzbischof Albrecht zum päpstlichen Generalsubkommissar ernannt worden.
Erzähler/in 2:
(von hinten) Das klingt wichtig!
Tetzel:
(lauernd) Na, wie geht es euch? Kommt! Wie geht es eurem Bauch? Knurrt er, weil er nach dem dünnen Süppchen immer noch so schrecklich leer ist? Oder kneift er, der Bauch? Zwickt er von dem Fleisch, das schon seit Tagen in der Kammer vor sich hingemodert hat? (schreit) Dieses Knurren und Zwicken und Kneifen ist nichts gegen das Knurren, Zwicken, Kneifen, das euch in der Hölle erwartet! (Volk stöhnt)
Ihr meint, es geht euch hier schlecht, weil ihr in schlechten Kleidern, abgelaufenen Schuhen und Schulden bis zur Halskrause steckt. (schreit) Das ist nichts gegen das Elend, das euch in der Hölle erwartet! Hört ihr nicht eure toten Eltern und Großeltern, wie sie schreien aus der Hölle: »Erbarmt euch doch! Erbarmt euch doch unser!« Was steht ihr noch untätig herum? Lauft um das Heil eurer Seelen!
Erzähler/in 2:
(von der Seite) Ich bin auf einmal richtig froh, dass unsere Pfarrerin und unser Pfarrer bei uns predigen und nicht dieser Tetzel.
Heinrich:
Bleib, Magdalena, und hör, was er uns zu sagen hat.
Tetzel:
Wer von euch hat noch nie gesündigt? Wer von euch hat immer getan, was Gott wollte? Ja, warum meldet ihr euch denn nicht? Hat der Teufel euch gepackt? Hat er euch eingewickelt? Dann seid ihr verloren! (Volk stöhnt)
Aber, meine lieben Kinder, was denkt ihr denn? Eure Mutter Kirche lässt euch doch nicht im Stich! Könnte Mutter Kirche zusehen, wie ihre Kinder ins Verderben laufen? Niemals!
Darum schenkt sie euch die Vergebung aller eurer Sündenstrafen. Amen. (Menge klatscht) Nehmt das hier! Es ist aus dem Schatz der Mutter Kirche. Nehmt diesen Vergebungsbrief! Er ist kostbarer als euer Leben! Er ist ewiger Friede für eure Seelen!
Heinrich:
(greift nach dem Ablassbrief) Ich will einen!
Tetzel:
Aber, aber, mein eiliger Freund! Ihr wollt doch die Vergebung nicht so billig, so einfach, oder? Christus und die Märtyrer haben ihr Blut dafür gegeben, und du willst nicht einmal ein jämmerliches Almosen für diesen Brief geben?
Heinrich:
Ja, natürlich … (kramt in seinem Geldbeutel)
Magdalena:
Aber Vater!
Tetzel:
Für was begehrst du, mein Freund, wenn ich fragen darf, die Vergebung?
Heinrich:
Dafür, dass ich dem Grafen einen Sack Weizen vorenthalten habe.
Tetzel:
Das macht 2 Dukaten.
Heinrich:
Und dafür, dass ich meinen Nachbarn Philipp verflucht habe.
Tetzel:
Das macht auch 2 Dukaten.
Heinrich:
Und dass ich der Annegret hinterhergeschaut habe …
Tetzel:
Das macht 5 Dukaten.
Heinrich:
Aber – das sind ja 9 Dukaten!
Magdalena:
Vater, das darfst du nicht machen! Das ist alles, was wir zurückgelegt haben, um neues Saatgut zu kaufen für die Felder. Und du hast auch gesagt, dass ich vielleicht im nächsten Jahr auf die Klosterschule gehen kann … Wenn du alles ausgibst für diese Vergebungsbriefe, dann geht das nicht – und wir werden verhungern!
Tetzel:
Ach mein Kind! Was ist Verhungern gegen die ewigen Qualen der Hölle?
Magdalena:
(zieht ihren Vater weg) Vater, tue es nicht! Ich flehe dich an! Glaub ihm nicht! Das kann Gott doch nicht wollen!
Heinrich:
(zieht die Hand zurück, sackt in sich zusammen) Es ist doch nur, damit die Mutter endlich Ruhe findet!
Magdalena:
Vater, komm nach Hause. Gott wird einen Weg für unsere Mutter wissen. Für uns alle!
Tetzel:
(ruft aus) Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt! Sobald das Geld im Kasten klingt …
Stimmen aus dem Volk:
Ich will einen Vergebungsbrief!
Ich bezahle, was du verlangst!
Für die Sünden meiner verstorbenen Mutter!
Ich will gleich drei Ablassbriefe!
Lied
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