Journalisten und Religion vor den Missbrauchfällen




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Sana26.06.2021
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Journalisten und Religion vor den Missbrauchfällen

Es ist zu fragen, ob die Religion gemäß der Formulierung der Schweizer Kollegen auch im niederländischen Journalismus „mitsurft“. Die Antwort auf der Grundlage eigener Forschungsarbeit lautet ja, „Religion surft mit“. Meine Forschungsergebnisse mit Bezug auf drei überregionalen Tageszeitungen in den Niederlanden zeigen eindeutig die Fokusierung der Medienaufmerksamkeit auf die Verknüpfung von Religion und Islamdebatte, auf die Diskussion über die Funktionen und Dysfunktionen der Religionen in der Gesellschaft, auf Diskurs und Streit zum Verhältnis Kirche, Staat, Meinungsfreiheit in Verbindung mit Religionsfreiheit etc. Diese Themen schossen hoch, als der Islam vor zehn Jahren als ein niederländisches Problem erfahren wurde. Es gibt seitdem eine Vielzahl an Mediendebatten über die soziale Funktion von Religionen wie beispielsweise zum Integrationsprozess von Einwanderern, ihren Kindern und Enkelkindern.

Um herauszufinden, wie der Stand der religiösen Berichterstattung und des Meinungsjournalísmus über Religionen ist, untersuchte ich die Qualitätszeitungen NRC Handelsblad (liberal, freidenkend), de Volkskrant (katholisch bis 1965, progressiv-links heutzutage) und Trouw (protestantisch-christlich bis 1974, allgemein christlich heute).37 Ausgewählt wurden der Zeitraum von Dezember 2006 bis Februar 2007 sowie Beispiele aus dem Jahr 2006. Wie man aufgrund des Leitartikels und der Leser erwarten kann, gibt es beim Inhalt der drei ausgewählten Zeitungen Unterschiede in der Art des Nachrichtenselektionsprozesses sowie im Tenor von Leitartikeln, Kolumnen und Artikeln auf den Kommentarseiten. Trotz Blogs und anderer Formen der Veröffentlichung im Internet ist die Bedeutung der Meinungsbildung in den Printmedien für die Qualität der öffentlichen Debatte noch immer sehr hoch.

Im Vergleich mit der im Rahmen des Züricher Forschungsprojekts durchgeführten Inhaltsanalyse fehlt meiner Untersuchung die Genauigkeit der Schweizer Kollegen und Kolleginnen: sie arbeiteten mit der sprichwörtlichen Präzision der in der Schweiz hergestellten Uhren. Die Hypothese meines Forschungsdesigns war, dass, wenn sich eine Inhaltsanalyse auf religiöse, geistliche und ethische Themen konzentriert, Unterschiede zwischen den drei Titeln deutlich zum Vorschein kommen. Dasselbe gilt für Innenpolitik. Man kann davon ausgehen, dass auf den Gebieten des Sport-, Wirtschafts- oder Finanzjournalismus größere Homogenität herrscht. Was die ausgewählten Zeitungen der letzten Wochen des Jahres 2006 und der ersten Monate des Jahres 2007 angeht, richtete sich die Aufmerksamkeit sowohl auf Ähnlichkeiten als auch auf Unterschiede in der Nachrichtenauswahl, in der Hintergrundinformation und in der Meinungsbildung. Die Konzepte (der Rolle) von Gatekeeping, Agenda-Setting, Medienlogik, Framing, Priming und Medienhype wurden für den theoretischen Rahmen der Inhaltsanalyse benutzt. Folgendes lässt sich aus der Untersuchung schlussfolgern: Journalisten der Massenmedien (Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Radio und Nachrichtenwebsites) wählen die Nachrichten nach bestimmten Kriterien des Nachrichtenwertes aus einem beinahe unbegrenzten Vorrat aus, was meist in der Routine ihrer Berufspraxis begründet ist. Was veröffentlicht wird, ist das Ergebnis des Gatekeeping-Prozesses. Basierend auf der feinmaschigen qualitativen Inhaltsanalyse der drei überregionalen Tageszeitungen Trouw, de Volkskrant und NRC Handelsblad könnte man folgern, dass Themen aus dem Bereich von Kirchen und Religionen groβzügige Aufmerksamkeit in den Medien bekommen, insbesondere dann, wenn sie gesellschaftlich-relevante Aspekte aufweisen. Die Themenvielfalt ist recht groß. Für Fotojournalismus bieten religiöse Bräuche und katholische Gottesdienste - mit vielen Hochwürden und vielem Weihrauch - schöne Bilder, die Abwechslung in den Zeitungsspalten bringen. Alle drei Zeitungen bieten regelmäßig Hintergrundartikel über den Islam an. Leser dürfen darauf in Diskussionsrubriken auf der Website und in den gedruckten Ausgaben reagieren. Sie bereichern damit die Meinungsbildung, insofern digital nicht hauptsächlich geschimpft oder beleidigt wird.


Der Kommunikationswissenschaftler Stephan Russ-Mohl stellte fest: „Je steiler es mit der journalistischen Qualität und mit der Bereitschaft, für journalistische Leistungen zu zahlen, bergab geht, desto zahlreicher und voluminöser werden offenbar die wissenschaftlichen Analysen, die sich mit journalistischer Qualität befassen und diese zu retten, zu sichern oder zu verbessern trachten.“38 Dennoch traue ich mich einen Wunsch zu äuβern. Um das Interesse an Inhalt und Qualität der Zeitungen und Meinungswochenblättern, was Religion und Meinungsbildung angeht, zu steigern, muss unbedingt mehr statt, wie es derzeit der Fall ist, weniger in das Redaktionsteam investiert werden. Aus der Analyse der drei überregionalen Zeitungen ergibt sich, dass ihre Redaktionsmitglieder einen beachtlichen Teil der Beiträge externen Autoren aus der Wissenschaft oder Politik überlassen. Um Lesbarkeit und Aktualität ihrer Artikel zu gewährleisten, müssen Redakteure sich eigentlich ständig weiterbilden und sich von Experten über die aktuellen Themen der Berichterstattung informieren lassen. Dazu brauchen die Redaktionen nicht nur Geld, sondern auch Zeit für Weiterbildung.

Als Fazit ist hervorzuheben: Die niederländischen Medien sind sich der hohen Bedeutung von Religion bewusst und darüber, dass es sich nicht um eine Randerscheinung einer post-christlichen Gesellschaft handelt. Auch, wenn die Verbindungen mit politischen Themen nicht immer völlig klar sein mögen, so besteht daran Interesse, neue Verbindungen und Perspektiven zu entdecken. Diese professionelle Einstellung der Medien ist eine Reaktion auf die Verwirrung der Politiker und die Zweifel der Öffentlichkeit – es sei denn, dass die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte nicht rechtzeitig erkannt oder verschleiert wurde. Insbesondere die tragischen Morde mit Fortuyn (2002) und Van Gogh (2004) als Opfer führten zu einem Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit der Thematik von Integration und Religion – was nun Früchte zu tragen scheint. Politiker nehmen die Veränderung wahr, und Journalisten haben sich darauf besonnen, Wachhunde statt Schoßhündchen in der öffentlichen Debatte zu sein.

Als Begleiterscheinung der skizzierten Umwälzungen in der niederländischen Gesellschaft surft Religion tatsächlich mit. Durch die Struktur des niederländischen nicht-kommerziellen Rundfunks mit insgesamt 24 sendeberechtigten Anbietern war Religion als Thema nie vom Bildschirm verschwunden und auch immer im Äther präsent. In den allgemeinen Meinungswochenblättern droht die religiöse Thematik jedoch schon wieder weitgehend an den Rand gedrängt zu werden. Ihre Aktualität musste vor einem Dezennium neu entdeckt werden. Dieser Sachverhalt führt inzwischen zu einer offenen Diskussion über die Bedeutung von Religion im öffentlichen Bereich. Man kann nur hoffen, dass sie durch medieninterne Entwicklungen oder gesellschaftliches Desinteresse nicht auf das Abstellgleis gerät und dass die Kombination von Religion und Emotion, die ich nicht angesprochen habe, Atheisten, Christen und Anhänger anderer Religionen nicht blind macht für Selbstreflexion und Selbstkritik. Tabuisierung des emotionalen Aspekts von Religion wäre ein neues Risiko für eine uneingeschränkte öffentliche Debatte.


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