Einschätzung der Folgen der Missbrauchaffäre




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Einschätzung der Folgen der Missbrauchaffäre

Der Amerikaner Dane S. Claussen von Point Park College erweiterte den inzwischen schon häufiger diskutierten und benannten Zusammenhang von Medien und Kultur dadurch, indem er Sex als etwas Drittes im Bunde hinzufügte.39 Für diese Annäherung kann man Beifall bekunden – ohne übrigens an die noch nicht nation wide durch die Medien aufgedeckten Missbrauchfälle in verschiedenen amerikanischen Diözesen und ihre Folgen für die katholische Kirche in den Vereinigten Staaten zu denken. „This nation is profoundly and simultaneously influenced by three distinct but powerful sets of interacting institutions and practices: religion, media, and sex. As editor Dane Claussen points out, the United States is one of the most religious nations on earth, media (most of which is privately owned) pervade virtually every aspect on life here, and sex is an omnipresent preoccupation for most who live in this country.“ Mit dieser Bestätigung fängt eine Rezension von Eric Gormly anlässlich des Buches an.40

Auf Grund der Beiträge in dem von ihm herausgegebenen Band zieht Claussen die Schlussfolgerung, dass die Journalisten Nordamerikas nicht kompetent genug seien, wenn es um die Bereiche Sexualität und Religion geht. Sie sind seiner Meinung nach Sex gegenüber überempfindlich und haben kein Gespür für damit verbundene soziale Fragen. Denselben Redakteuren gelinge es nicht, die meisten religiösen Themen wirklich zu verstehen. Sie seien dadurch eher geneigt, auf die lauten Stimmen der Extremen zu hören als auf die maβvollen Stimmen der Mitte. Diese Feststellung kann man als Bestätigung des in der Kommunikationswissenschaft seit einem Dezennium durchaus üblichen Theorieansatzes der Eigengesetzlichkeit des Journalismus und der Medien, der so genannten „Medienlogik“ (media logic) werten. Interessanterweise geht Claussen jedoch einen Schritt weite, indem er die übergroβe Mehrheit der Kirchen und religiösen Organisationen der Unwissenheit, Verdrängung und Leugnung in Bezug zu Sexualität bezichtigt. Damit sind wir in media res, wenn es um die Missbrauchsaffären in der katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten, Kanada, Mexiko, Australien und vielen Ländern in der Welt geht.

Wichtig war die öffentliche Zusicherung am 9. März 2010, seitens der niederländischen Bischofskonferenz alles offen darzulegen. Am 6. März hatte, Ad van Luyn sdb, der bis Mitte 2010 Vorsitzender der niederländischen Bischofskonferenz war, in der kirchlichen Sendezeit der römisch-katholischen Kirche (Rooms-Katholiek Kerkgenootschap, RKK) schon ein Versprechen in diese Richtung bekannt gemacht. Welche Folgen die nicht unbegründeten Enthüllungen auf Dauer für das Ansehen der katholischen Kirche und die Ich-Beteiligung der Katholiken haben werden, lässt sich noch nicht einschätzen. Was seit 1945 in katholischen Internaten passiert ist, wurde zwischen Frühjahr 2009 und Ende 2011 im Auftrag der Bischöfe eingehend von einer unabhängigen Kommission unter Vorsitz des schon erwähnten ehemaligen Ministers Deetman untersucht. Von staatlicher Seite wird ebenfalls von einer unabhängigen Kommission geprüft, welche Rolle die Institutionen zur Jugendschutz gespielt haben. Über die Vermittlung des amtlichen Kinderschutzes wurden auch Kinder in Internate geschickt. Diese Kommission wird einen Abschlussbericht frühestens Ende 2012 veröffentlichen können. Beide Untersuchungsausschüsse arbeiten immer dann, wenn es zweckmäβig war bzw. ist zusammen. Über Maβnahmen zur Vorbeugung bzw. zum Ausschluss der Wiederholung von Straftatbeständen wird bereits auf politischer Ebene diskutiert. Die katholische Glaubensgemeinschaft, vertreten durch die Bischöfe, wird sich gegenüber der niederländischen Gesellschaft zu verantworten haben. Durch die neue Faszination, die die Religion in den Niederlanden auslöste, könnte es vielleicht geschehen, dass Berichterstattung und öffentliche Meinungsbildung zu Missbrauchsdelikten in der katholischen Kirche, nun über einen längeren Zeitraum verdrängt wurden. Als vor zehn Jahren oder länger zurück über die Folgen der Missbrauchswelle in der USA oder sogar über Einzelfälle in den Niederlanden berichtet wurde, meldeten sich kaum niederländische Opfer bei Redaktionen. Mediahypes brauchen Zeit und lassen sich nicht erzwingen.

Die soziale und gesellschaftliche Entwicklung in Ländern wie den Niederlanden, Belgien, Österreich und der Schweiz haben Sozialwissenschaftler als einen Prozess der „Versäulung“, erfolgt im letzten Viertel des neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts (oder besonders in orthodox-christlichen Kreisen noch länger, sogar bis heute) charakterisiert. Während der „Versäulung“ gab es eine Art Durchlässigkeit, eine Fusion von Journalismus (Medienkultur) und kirchendominierter Kultur, der sich auch der persönliche Lebensstil unterordnete. Unter dem Einfluss der „Entsäulung“, dem typischen Prozess in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, hat sich die Bereitschaft der Journalisten verringert, ihre „eigene“ Kirche gegen die Kritik von Außenstehenden zu verteidigen oder ihr negative Berichterstattung zu ersparen – wenn sie nicht sogar völlig verschwunden ist. Die Missbrauchsaffäre macht klar, dass Kirchen nicht mehr einen Anspruch auf eine Ausnahmeposition befürworten und erwarten können. Die Kultur innerkirchlichen Schweigens über Missstände, um Imageschaden in der Öffentlichkeit vorzubeugen, verursacht nun kaum absehbaren moralisch-ethischen Schaden.


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