Kirche und Medien in der Entwicklung nach Vaticanum II
Die niederländischen orthodox-protestantischen, „reformierten“, Christen und die Katholiken schafften ihre politische, kulturelle und wirtschaftliche Emanzipation in einem bürgerlich-protestantischen Umfeld bestehend aus bürgerlich-liberalen und eigenen Zeitungen, Zeitschriften, Schulen, Universitäten, Gewerkschaften, politischen Parteien, Rundfunkorganisationen, Sportvereinen usw. dadurch, dass sie sich seit 1870 im eigenen Kreis organisierten. Diese als „Versäulung“ angedeutete Entwicklung stärkte die eigene Bevölkerungsgruppe. Die führende Elite der eingangs genannten zwei Gruppierungen wirkte gemeinsam und arbeitete dabei auch mit Sozial-Demokraten und mit bürgerlich Liberalen zusammen, namentlich in der Politik.10 Die Medien bildeten einen internen Zusammenhang, prägten die eigene Identität und stellten sich extern der Aufgabe, die eigenen Zielsetzungen zu propagieren und eventuell die eigenen Interessen zu verteidigen.11 Manchmal dominierte Polemisches. Gleichzeitig entwickelte sich ein kontinuierlicher Lernprozess gegenseitiger Verständigung der verschiedenen Säulen.
Seit der Mitte der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts vollzog sich ein Prozess der „Entsäulung“. Einerseits führte der Prozess der „Entsäulung“ zum Wiederaufleben des Katholizismus bei Befreiung von Zwang und Gehorsam. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) war in den Niederlanden mit Begeisterung auch der Medien verfolgt worden. Es mündete jedoch nicht in der Erfüllung der niederländischen Wünsche hinsichtlich der Abschaffung des Zölibats und einer Demokratisierung der Kirche auf allen Ebenen. Andererseits entstand zeitgleich mit der „Entsäulung“ ein hoher Grad von religiöser Unentschlossenheit. Mit der Individualisierungstendenz verband sich die Förderung einer gewissen Distanz zur Kirche als Institution. Spannungen zwischen konservativen Katholiken und Fortschrittlichen verursachten eine unerfreuliche Polemik, von der Auβenseiter zynisch sagten: „Siehe wie sie einander lieben“. Zwischen der niederländischen Kirchenprovinz und dem Vatikan häuften sich in den siebziger Jahren die Probleme, zum Beispiel anlässlich umstrittener Bischofsernennungen. Das alles führte dazu, dass Papst Johann Paul II. 1985 in den Niederlanden in einem kalten, fast feindlichen Ambiente empfangen wurde.12
Über Zwischenfälle im kirchlich-katholischen Bereich wurde ausführlich berichtet – immer öfter von Berichterstattern ohne Bezug zum Katholizismus und zu seinen Eigenarten. In den achtziger Jahren verschwanden Spezialisten auf dem Gebiet von Kirche und Religion aus dem Tageszeitungsjournalismus. Gleichgültigkeit gegenüber der Religion machte sich unter unterschiedlichen niederländischen Intellektuellen, Politikern, Künstlern, Fernsehpersönlichkeiten und Autoren breit und schuf ein Klima des Schweigens derjenigen, die eigentlich anders dachten. Dieses postmoderne Verhalten basierte sogar auf kultureller Relativierung oder wurde als Toleranz gepriesen. Von diesem historischen Standpunkt aus begann in den Jahren um 2000 ein neues Zeitalter. Es war ein Zeitalter, in dem der Journalismus anfing, Religionen, Kirchen und verschiedene Formen der Spiritualität in einer unvoreingenommenen Weise zu betrachten. Die ersten Vorzeichen hatte man schon Mitte der neunziger Jahre wahrnehmen können. Die Wiederentdeckung betraf zunächst nur das Christentum: Sie führte zu einer offener Diskussion über die Bedeutung von Religion im öffentlichen Bereich, aber manchmal auch über Glauben als Sprengsatz für Verfolgung und Krieg. Ab 2001 belebten der Islam und die Drohung der Islamisierung der als christlich verstandenen niederländischen Gesellschaft die Debatte, nachdem diese Thematik einige Dezennien tabuisiert worden war.
Darüber hinaus nutzten in der neuen Situation Atheisten und Freidenker (die immer häufiger als „Säkularisierte“ bezeichnet werden und eher skeptisch oder ablehnend gegenüber der Erfahrung von Religion außerhalb des strengen individuellen Privatlebens sind) die Chance, ihre Ideen und Ansichten zu verbreiten – zum Beispiel als Gegengewicht zu dem kulturell-religiösen revival. Auch die christliche Tageszeitung „Trouw“ veröffentlicht regelmäβig Beiträge von Autoren, die sich als Atheisten bekennen. Anhänger der strikten Trennung von Kirche und Staat, die Religion aus dem öffentlichen Leben heraushalten wollen, sind in verschiedenen politischen Parteien zu finden.
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