Die Aktualität der kirchlichen und religiösen Kultur
Seit den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hinterfragen Theologen, Kirchenhistoriker, Kulturhistoriker, Religionssoziologen und Religionspsychologen die strukturellen Veränderungen und mentalen Prozesse, die für die christlichen Kirchen und die Christen in den Niederlanden noch oder nicht mehr wichtig sind. Sie veröffentlichen Ihre empirisch fundierten Forschungsergebnisse nicht nur als wissenschaftliche Fachliteratur. Es erscheinen auβerdem regelmäβig Bücher für ein breiteres Publikum als Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung. Besonders diese Veröffentlichungen werden in Printmedien wie Tageszeitungen und Meinungswochenblättern sowie im Fernsehen (Talkshows und Diskussionsprogrammen) häufig und lebhaft diskutiert. Als Buchautor und Kolumnist der Samstagsausgabe der christlichen Tageszeitung Trouw konfrontiert der an der Universität von Amsterdam lehrende amerikanische Historiker James Kennedy die Niederländer ständig mit ihrem Ringen um das Selbstbewusstsein, die Vergangenheit mehr oder weniger harmonisch in die Aktualität der Gegenwart zu integrieren. Auf der Suche nach beseelenden, begeisternden, bindenden Zusammenhängen diagnostiziert er in seinem letzten Buch den Zustand der Niederlande als in sich selbst verunsichert und zersplittert.14 In einer Rezension dieser Veröffentlichung schätzt der vielleicht einflussreichste niederländische Intellektuelle Alexander Rinnooy Kan Kennedy als „einen kritischen, aber wohlwollenden Beobachter“ der gegenwärtigen Entwicklung der Niederlande und ihrer Institutionen. Der Rezensent bezweifelt jedoch, ob Kennedys Plädoyer für mehr Selbstbewusstsein der protestantischen Kirchen in ihrem Umgang mit der gleichgültigen, sogar feindlichen gesellschaftlichen Umgebung zutrifft: Er interpretiert es als einen Versuch, noch zu retten, was nicht mehr zu retten sei.15 Wenn Kennedy das komplizierte Verhältnis der Niederländer zu christlichen, insbesondere protestantischen Kirchen analysiert, sieht er tatsächlich eine Zukunft für Kirchen, die sich in der säkularisierten, demokratischen Gesellschaft als vorbildliche „Kontrastgemeinschaften“ profilieren. Diese Glaubensgemeinschaften betrachten ihre wichtigste öffentliche Aufgabe in Kennedys Vorstellung nicht einseitig oder schwerpunktmäβig als (horizontale) gesellschaftliche Dienstleistung. In lebendigen Gemeinden zeigen die Gläubigen der Kontrastgemeinschaften als Verkörperung von Christus seiner Meinung nach jedoch zu gleicher Zeit ein (vertikales) Gespür für die Herausforderung, den gemeinsamen Weg als Christen zu gehen.
Der niederländische (protestantische) Religionssoziologe Gerard Dekker stellt in seinem letzten Buch die Frage, ob die Kirche sich überlebt hat. Antwort: In der gegenwärtigen Gestalt und in den Leistungen, in der enttäuschenden Erfüllung der eigentlichen Funktionen - schon. Damit meint Dekker die Verkündigung des Wortes, die Evangelisierung in Einklang mit dem Lebensgefühl der Menschen und dem heutigen kulturellen Klima als Wesensmerkmal der Kirche statt sich in einer Vielfalt von Aktivitäten mit gesellschaftlichem Nutzen zu verlieren. Seine Reaktion auf Kennedys Plädoyer lautet: Die protestantische Kirche in den Niederlanden ist mit ihrer Überlebensstrategie nicht mehr in der Lage, als Vorbild für die Gesellschaft, als ‚leuchtende Stadt auf dem Berg’ (Titel des Buches von Kennedy), mit einer horizontalen und vertikalen Dimension zu dienen. Dekker schlägt vor, eine Zweiteilung der kirchlichen Aufgaben dadurch anzustreben, dass zwei organisatorisch getrennte Aufgabenbereiche entstehen: Einerseits für die Kirche als Hilfsorganisation und andererseits für die Kirche mit der Verkündigung des Evangeliums als Kernaktivität.16 Für die katholische Kirche fehlen leider vergleichbare Analysen und Reformvorschläge.
Romanautoren, auch manche, die auβerhalb der Niederlande weniger bekannt sind als Jan Wolkers, Maarten ’t Hart oder Jan Siebelink, setzen sich mit dem Calvinistischen Glauben ihrer Jugend und mit der Verabschiedung kirchlicher Strukturen auseinander, die sie als eine unverschämte Einschränkung der eigenen Verantwortung und Individualität erfahren haben. Ihr Erfolg bei den Lesern unterschiedlicher Generationen beeindruckt. Für die Wahrnehmung und Achtung des Christentums bedeutet es jedoch auch eine Schwelle, um die positiven Seiten einer religiösen Erziehung zu entdecken. Vorurteile werden im religiösen Bereich leicht entwickelt, gerade auch deshalb, weil Religion stark mit Emotion verbunden ist.
Nicht alle Niederländer sind Theologen, aber über Gott, Kirche und Welt machen sie sich gern Gedanken. Allah, Moschee und Welt lassen sich noch nicht so einfach in das christlich geistige Erbgut einfügen. Befürworter und Anhänger eines bestimmten Atheismus, Humanismus, Hinduismus, Taoismus bzw. anderer Weltanschauung oder (Welt)Religion sind übrigens ebenso gefragt, ihre Einstellung dem hautnahen Islam gegenüber zur Debatte zu stellen oder einfach zu zeigen. Die Abteilung für Forschung und Dokumentation (Wetenschappelijk Onderzoek- en Documentatie-Centrum, WODC) des niederländischen Justizministeriums gab anlässlich der in den letzten Jahren intensiv diskutierten Frage, ob Religion ein Bindemittel in der Gesellschaft sei, Ende 2009 ein interessantes Forschungsprojekt in Auftrag. Im Rahmen dieses Projekts analysieren Religionswissenschaftler der Amsterdam School for Cultural Analysis (ASCA) der Universität von Amsterdam seit Frühjahr 2010 die Reaktionen der Glaubensgemeinschaften in den Niederlanden anlässlich anti-islamischer Äuβerungen und Aussagen in der Öffentlichkeit.
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